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Körper

Die Erfindung der Cellulite

Pünktlich zur wärmeren Jahreszeit beginnt sie wieder: die große Dellen-Hysterie. Dabei hat im Grunde jeder Cellulite. Wer also hat das Ganze zu einem Problem erhoben?
Image via Wikpedia

Mit dem Sommer rückt auch die imaginäre Cellulite-Plage näher und plötzlich scheint es für Lifestyle- und Boulevardmagazine kein wichtigeres Thema zu geben. In vielen Artikeln wird hämisch festgestellt, dass auch Prominente nicht von den Dellen verschont bleiben („Cellulite-Alarm bei Kim und Co.", „Stars mit fieser Cellulite"), während wieder andere erklären, wie man Orangenhaut bei sich selbst vorbeugt („Das hilft gegen Cellulite" und „33 Tipps gegen Cellulite").

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Es lässt sich also zweifelsfrei feststellen: Unsere gegenwärtige Gesellschaft hat ein echtes Problem mit Unterhautfettgewebe. Aus biologischer Sicht jedoch ist Cellulite so gut wie nicht zu vermeiden. „Es ist ein sekundäres Geschlechtsmerkmal, genau wie Brüste", sagt Max Lafontan, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Inserm, dem französischen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung, und Experte für Fettgewebe.

Laut seiner Aussage sind mindestes acht von zehn Frauen von dieser Form der Fettansammlung betroffen, die meistens am Hintern, an den Oberschenkeln und am Bauch zu finden ist und in der Schwangerschaft und der Stillzeit eine äußerst nützliche Energiereserve darstellt. „Die Haut von Frauen ist anders aufgebaut als die von Männern", sagt Lafontan. „Zu Cellulite kommt es, wenn die Fettzellen anschwellen und die feine Homogenität des Gewebes stören."

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„Cellulite" hat es schon immer gegeben—nur dass Frauen ihr den Krieg erklärt haben, ist neu. Wie der französische Historiker Georges Vigarello in seinem Buch Geschichte der Schönheit betont „stammt Cellulite von […] einer Kultur der genauen Untersuchung [des Körpers] ab, die [die Leute] stärker als bisher mit Mangel und Verfall konfrontiert." Ein Blick in ein Kunstmuseum verdeutlicht diese Entwicklung. Im Prado in Madrid beispielsweise, stilisiert Peter Paul Rubens die Orangenhaut in seinem Gemälde „Die drei Grazien". Das Meisterwerk stammt aus dem 17. Jahrhundert und präsentiert ein Schönheitsideal der damaligen Zeit.

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Auch das Wort „Cellulite" ist noch nicht alt: Erfunden wurde es in Frankreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Zum ersten Mal tauchte es 1873 in dem französischen medizinischen Wörterbuch Littrè & Robin auf. Darin wird Cellulite beschrieben als „Entzündung des Zellgewebes oder der oberen Hautschichten." Aber die Ärzte zu dieser Zeit „verwendeten den Begriff, um etwas anderes zu beschreiben", merkt Rossella Ghigi, Professorin an der Universität von Bologna, an. Vor 15 Jahren, als sie in Paris studierte, schrieb Ghigi ihre Doktorarbeit über die Geschichte der Cellulite—eine der wenigen Studien zu dem Thema.

Bevor die ersten Artikel über Cellulite publiziert wurden, hat niemand danach gefragt, wie er sie loswerden könnte.

In den Jahren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg nahm die mediale Aufmerksamkeit für Cellulite in Frankreich deutlich zu. Die Pariser Schönheitssalons begannen sich gezielte Heilmittel gegen diese „Plage" auszudenken. Frauenmagazine fingen an, ihre Seiten mit Expertentipps zu füllen und Leserbriefe klangen zunehmend besorgter. Laut Ghigi, die mehrere französische Modemagazine aus dieser Zeit analysiert hat, „gab es diese Welle, die von den Ärzten angeschoben und von den Lesern verstärkt wurde. Bevor die ersten Artikel über Cellulite publiziert wurden, hat niemand danach gefragt, wie er sie loswerden könnte."

Nehmen wir zum Beispiel die monatlich erscheinende Votre Beauté. Herausgebracht wurde sie 1933 von Eugène Schueller, dem Gründer der L'Oréal Group, die heute mit Marken wie Maybelline, Lancôme und Kiehl's Weltmarktführer im Kosmetikbereich ist. Schon im Februar 1933 veröffentlichte das Magazin einen langen Artikel über Cellulite, unterschrieben von einem „Dr. Debec". Dem Text zufolge sei Cellulite eine Mischung aus „Wasser, Rückständen, Giften und Fetten, die ein Gemisch bilden, dem unser Körper nur wenig entgegenzusetzen hat." Laut dem Arzt handle es sich dabei um eine Infektion, gegen die kein Training helfen würde. Kein Wunder, dass innerhalb kürzester Zeit die ersten besorgten Leserbriefe beim Herausgeber eintrudelten. Im Mai 1935 machte sich beispielsweise eine der Leserinnen Gedanken über die wahre Natur der „Krankheit". Die Antwort: „Es handelt sich dabei um degeneriertes Gewebe. Es ist eine Mischung aus Wasser, aus Substanzen, die Urin ähnlicher sind als Blut oder Wasser … Zum Beispiel kann es auf den Oberschenkeln durch das Tragen eines zu engen Gürtels, der die Blutzirkulation hemmt, hervorgerufen werden."

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Lange Zeit blieb Cellulite ein Problem der Franzosen, aber irgendwann bahnte sich die Manie ihren Weg über die Grenze in die USA. Auch dort findet man in den Archiven der Fachpresse Zeugen ihrer Ausbreitung. Am 15. April 1968 erschien die US-Ausgabe der Vogue mit folgender Überschrift auf der Titelseite: „Cellulite: das neue Wort für Fett, das Sie biser nicht losgeworden sind." In ihrem Bestseller Die Schönheitsmythen (1990) erörtert die feministische Journalistin Naomi Wolf, dass sich daraus ein popkultureller Trend entwickelt hat, der die Gesundheit der „Haut erwachsener Frauen" neu interpretiert und daraus ein „Symptom" kreiert.

Foto: imago | Enters

Laut Ghigi dauerte es einige Jahre, bevor der Begriff schließlich auch in das Bewusstsein der Briten vordrang: „1986 enthielt die Encyclopedia Britannica nur den Begriff ‚Zellulitis', welcher den entzündeten Zustand beschreibt", schreibt sie in ihrer Doktorarbeit. „Zwölf Jahre später enthielt sie nur noch das Wort ‚Cellulite', welcher das Fettdepot definiert."

Früher wurde Schönheit als ein Privileg von Leuten betrachtet, die von Mutter Natur gesegnet wurden. Heute stellt Schönheit ein leistungsorientiertes Ideal dar; ein Ziel, das man durch körperliche Disziplin—und einen dicken Geldbeutel—erreichen kann. In der Zeit zwischen März 2014 und Februar 2015 wurden laut IMS Health Pharmatrend allein in Frankreich 919.108 Tuben Anti-Cellulite-Creme verkauft, zu einem Nettogewinn von 22,8 Millionen Euro. In Deutschland stiegen die Umsätze mit Hautpflegemitteln von 28,5 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 29,9 Milliarden Euro im Jahr 2015.

Zusätzlich kommen immer wieder neue Science Fiction-mäßige Erfindungen auf den Markt, die Frauen dabei helfen sollen, ihre Cellulite für immer loszuwerden. Wie zum Beispiel die Vakuum-Saugnäpfe oder die Kryolipolyse, bei der die Fettpölsterchen einfach eingefroren werden sollen. Im April 2011 wurden fünf dieser Kryopolyse-Techniken von der französischen Gesundheitsbehörde verboten. Diese nicht-operativen Alternativen zur Fettabsaugung bergen für den Patienten Risiken wie Verletzungen, Infektionen und Ausschläge.

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„Was mich an all dem am meisten stört, ist die Tatsache, dass das Thema im Grunde durch Verkäufer angestoßen wurde, die sich daran bereichern wollten", sagt der Biologe Max Lafontan. Vor einigen Jahren hat er mit der Firma LPG Systems zusammengearbeitet, um die Cellu M6 zu testen. Diese Maschine ist vor allem in Schönheitssalons beliebt und imitiert die Rollmassage, die von Physiotherapeutin angewandt wird, um Cellulite zu reduzieren. „Ich konnte zeigen, dass es die Bewegung des Unterhautfettgewebes anregt", sagt Lafontan. „Aber da ist nichts außergewöhnliches, weil sich das Fettgewebe—selbst wenn es nur leicht angeregt wird—sofort wieder absetzt, sobald man mit der Behandlung aufhört."

Die Lektion? Der Versuch, Cellulite loszuwerden, ist, als würde man jemandem auf dem Laufband hinterher jagen: Es führt zu nichts und raubt einem nur Energie.