Politik

Ich wurde mit nur 23 zum Bürgermeister gewählt

Andere genießen in diesem Alter ihre sorgenfreie Studienzeit, ich muss mich um die Probleme und Anliegen von 4.000 Bürgerinnen und Bürger kümmern.
Alessandro Pilo
Budapest, HU
Andrea Fiori ist mit nur 23 Jahren zum Bürgermeister einer italienischen Kleinstadt gewählt worden; hier ist er zusammen mit seinen Bürgern auf einem Markt zu
Das ist Andrea Fiori, der Bürgermeister von

Montopoli di Sabina | Foto: bereitgestellt von Andrea Fiori

Als Italien im Frühling den ersten Corona-Lockdown durchlebte, gingen mehrere Videos von wütenden italienischen Bürgermeistern viral, die ihre Bürgerinnen und Bürger dafür rügten, gegen die Auflagen zu verstoßen. So wurden diese Bürgermeister unfreiwillig zu Internet-Stars. Im Normalfall gehen das Bürgermeisteramt und größere Bekanntheit aber nur selten Hand in Hand. Außer, man ist ungewöhnlich jung. So wie Andrea Fiori. Der 23-jährige Italiener wurde im vergangenen Jahr zum Bürgermeister von Montopoli di Sabina gewählt, einem 4.000-Seelen-Nest 50 Kilometer von Rom entfernt. Uns hat er erzählt, welche Vor- und Nachteile es hat, mit Anfang 20 an der Spitze einer Kleinstadt zu stehen.

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Ich stamme aus einer politisch sehr aktiven Familie. Mein Onkel wurde vor 40 Jahren zum Bürgermeister gewählt, damals war er erst 20. Und mein Opa war in der Kommunistischen Partei Italiens. Auch ich fing früh an, mich in Jugendgruppen und anderen lokalen Organisationen zu engagieren.

Als mir das erste Mal vorgeschlagen wurde, mich zur Bürgermeisterwahl aufstellen zu lassen, zögerte ich. Denn das klang nach sehr viel Verantwortung. Aber die Gegend hier ist bekannt für die Schlacht von Tancia, bei der im Jahr 1944 sieben junge antifaschistische Freiheitskämpfer von Nazis getötet wurden. Das klingt jetzt vielleicht klischeehaft, aber ich hatte das Gefühl, dass ich es diesen Freiheitskämpfern schuldig war, als Bürgermeister zu kandidieren. Im Mai 2019 fand dann die Wahl statt: Ich gewann und wurde einer der jüngsten Bürgermeister in Italien.


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Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mich an meinem ersten Tag ziemlich unwohl und fehl am Platz fühlte. Ich brauchte fast ein Jahr, um alles richtig zu verstehen. Oftmals bist du viel zu beschäftigt, um dir in Ruhe anzuschauen, wie das administrative System funktioniert. Also lernst du das nebenbei. Ich bin immer noch ziemlich naiv, manchmal kümmere ich mich um Dinge, die gar nicht in meinen Verantwortungsbereich fallen. Ich will lernen, pragmatischer zu handeln. Wenn du allen viel Zeit zum Reden gibst, hörst du fast nur zu und hast dann nicht mehr genug Zeit, um Entscheidungen zu treffen und Antworten zu geben.

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Ich musste meine Erwartungen an mein neues Amt zurückschrauben. Ich bin für eine Kleinstadt verantwortlich, muss aber die gleichen Dienste anbieten wie in größeren Städten – und hier sind nie genügend Angestellte da, um alles zu schaffen. Bevor du die aufregenden Teile deiner Pläne angehen kannst, musst du dich um dringende Angelegenheiten wie Überschwemmungen, Feuer oder den Lockdown kümmern. Dazu kommen die alltäglichen Aufgaben – etwa Schlaglöcher in den Straßen oder die öffentliche Sauberkeit. Solche Dinge fallen mir auch als erstes auf, wenn ich in Nachbarstädten unterwegs bin. Ohne gute Planung ist es schwer, mehr als nur die grundlegenden administrativen Aufgaben zu erledigen.

Ich lebe quasi im Rathaus und schalte nie ab.

Ich war sechs Monate im Amt, als es mit der Corona-Pandemie richtig losging. Es ist mir eine Ehre, jemand zu sein, bei dem meine Bürgerinnen und Bürger Rat suchen. In solch unvorhersehbaren Zeiten ist es allerdings schwer, den Erwartungen gerecht zu werden. Oft kann ich nachts kaum schlafen. Ich denke dann immer voller Sorge darüber nach, dass sich viele Menschen aus meinem Ort mit dem Coronavirus infizieren und ich dann eine Massenpanik unter Kontrolle bringen muss. Während des ersten Lockdowns fand die Beerdigung von einem geliebten Mitglied unserer Gemeinde statt. Normalerweise wären da sehr viele Leute und Familien hingegangen, aber ich musste ihnen das untersagen. Das war sehr schwer für mich.

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Natürlich habe ich auch schon Fehler gemacht – etwa Dinge zur Presse gesagt, die ich später bereute. Mein Leben hat sich drastisch verändert. Ich lebe quasi im Rathaus und schalte nie ab. Manchmal frage ich mich, ob ich mein Einkommen publik machen sollte, denn viele Leute denken, ich würde pro Monat 3.000 Euro verdienen. Dabei sind es eher 1.400. Das finde ich gar nicht schlimm, aber für die viele Arbeit und die Risiken, die ich eingehe, ist es eigentlich zu wenig. In Italien haben Bürgermeister und Bürgermeisterinnen sehr viele rechtliche und bürgerliche Pflichten: Du bist verantwortlich für die öffentliche Gesundheit, den Katastrophenschutz, die Sicherheit und die Kinderfürsorge. Und das ist nur ein kleiner Teil der Liste. 

Ich muss lernen, manche Dinge einfach zu ignorieren.

Den Leuten ist oft gar nicht klar, was in ihren eigenen Gemeinden abgeht. Hier in Montopoli ziehen wir zum Beispiel gerade einen langfristigen Plan zur Rückzahlung der Gemeindeschulden durch. Leider sind einige Konten überzogen. Aber wenn du darauf hinweist, dann riskierst du, dass man dir vorwirft, nur nach Ausreden zu suchen.

Die schlimmsten Kritiker sind die, die sagen "Du hast nichts erreicht", "Nichts hat sich verändert" oder "Nichts funktioniert hier". Als Bürgermeister musst du oft als Sündenbock für allerlei Probleme herhalten, aber es ist eben kaum möglich, alle Leute zufriedenzustellen. Es ist besonders belastend, wenn die Kritik ungerechtfertigt ist. Ich muss lernen, manche Dinge einfach zu ignorieren.

Alles in allem schätze ich mich trotzdem glücklich. Als Kind hatte ich zwei Träume: Bürgermeister und Archäologe werden. Ich habe gerade meinen Abschluss in Archäologie gemacht, also sind beide Träume noch vor meinem 24. Geburtstag quasi wahr geworden. Wenn mich morgen ein Blitz trifft, würde ich als glücklicher Mensch sterben.

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