Sex

Warum der Sieg über AIDS die Syphilis groß gemacht hat

Ein Experte verrät, wie die "Lustseuche" zurückgekommen ist und was du dagegen tun kannst.
Eine rosa Masse zeigt Syphilis-Geschwülste, während AIDS rückläufig ist, ist die
So eklig und schön können Syphilis-Geschwülste im dritten Stadium aussehen. Foto: Yale Rosen / Flickr.com

Sex ist schön, aber hattet ihr schon mal sexuell übertragbare Krankheiten? Ihr würdet euch in guter Gesellschaft befinden. Ludwig van Beethoven, Heinrich Heine und Oscar Wilde hatten genauso die "Lustseuche", wie man die Syphilis früher mit Blick auf ihre Übertragungswege nannte, wie Ivan der Schreckliche oder Katharina die Große. 

In Deutschland feiert die Syphilis seit zwanzig Jahren ein schleichendes Comeback. 2019 gab es fast 8000 Fälle. Vor allem in Großstädten grassierte die Krankheit und meistens bei Männern, die Sex mit Männern haben (85,9 Prozent der Fälle, bei denen die sexuelle Orientierung angegeben war). Nur wenige Frauen infizieren sich (5,8 Prozent), insgesamt etwa 16 Mal weniger als Männer.

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Dabei bleibt die Syphilis oft für lange Zeit unbemerkt. Die Krankheit zieht sich über Jahre, in denen man immer mal wieder kaum oder keine Symptome zeigt. Vor allem am Anfang zeigt sie sich deutlich, wenn sich an der Infektionsstelle ein Geschwür bildet. Am Ende kann es zu Organ- und Nervenschädigungen kommen.

Verrückt also, dass diese Krankheit sich für die große Mehrheit der Menschen unbemerkt ausbreiten kann. Woran das liegt, und was man dagegen tun kann, fragen wir Dr. Norbert Brockmeyer. Er ist seit über 30 Jahren im Bereich sexuell übertragbarer Infektionen tätig und leitet das WIR in Bochum, eine interdisziplinäre Einrichtung, in der Ärzte, Familienberater und AIDS-Experten Betroffenen Hilfe anbieten. Es ist ein Zentrum, das interaktiv, interprofessionell und interinstitutionell Betroffene berät, diagnostiziert und therapiert

VICE: Herr Brockmeyer, jeder weiß, was HIV ist. Die Syphilis dagegen ist eine Krankheit, die unter dem Radar zu fliegen scheint, woran liegt das?Prof. Norbert Brockmeyer: HIV hat in den vergangenen 30 Jahren einfach eine große, notwendige öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Was wir dabei gelernt haben, wissen wir noch heute. Durch die Anti-AIDS-Kampagnen der 80er und 90er war Syphilis nach einem gewissen Peak in den 70er Jahren fast verschwunden. 1989 hatten wir nur noch 800 Fälle. So ist die Syphilis aus dem Bewusstsein der Bürger wie der Ärzte verschwunden. Ich weiß noch, wenn in den 90ern eine Patientin oder ein Patient mit einer Syphilis behandelt wurde, wurden die Kolleginnen und Kollegen gerufen, um sich das Krankheitsbild anzuschauen und es zu lernen. Es hieß, so schnell werde eine solche Erkrankung nicht mehr zu sehen sein. Heute haben wir bei uns mehrere Fälle pro Woche.

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HIV stirbt also aus, während Syphilis sich rasant ausbreitet.  Wie kann das sein?
HIV wird deshalb immer seltener, weil wir hervorragende Medikamente haben, die AIDS und zudem das Risiko weiterer Neuinfektionen verhindern. Sexuelle Krankheiten sind ein Tabu, ein Stigma. Das macht einen Großteil der Probleme aus. Keiner will darüber reden. Mittlerweile ist das Stigma bei HIV nicht mehr so schlimm. Heute sind Menschen eher bereit über ihre HIV-Infektion zu sprechen. Menschen mit einer HIV-Infektion werden gesellschaftlich schon weitgehend akzeptiert. Bei Syphilis wollen Leute das geheim halten. Da sieht man, wie viel tabuisierter sie ist. Sexualität ist ja generell ein gesellschaftlich ausgegrenztes Thema, vor allem, wenn sie nicht funktioniert. Wenn man seine geschlechtliche Rolle nicht ausleben kann, wegen einer sexuell übertragbaren Infektion zum Beispiel. 

Was könnte man dagegen tun?
Wir müssen Aufklärung betreiben. Nicht nur über die Syphilis, sondern über alle sexuell übertragbaren Infektionen (STI). Die Möglichkeit, Sexualkontakte anzubahnen, ist heute durch Dating-Apps und Chatrooms natürlich viel größer, alles geht viel schneller. STIs haben so einen Kettenbrief-Charakter. Das heißt, wenn einer sie hat und dann mit zehn Menschen Sex hat, haben wir schnell eine exponentielle Verbreitung. Wir müssen es schaffen, Infektionsketten zu unterbrechen, um Neuinfektionen zu verhindern.

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Das kennen wir ja derzeit ganz gut. Wie funktioniert das bei Syphilis?Syphilis ist vor allem eine Krankheit, die Männer kriegen, die Sex mit Männern haben. In diese Zielgruppen müssen wir reingehen. Wir müssen klären, wer infiziert ist, und wir müssen aufklären: Lasst euch testen, sagt es weiter. Einmal hat einer unserer Patienten gleich sieben seiner Freunde zum Test mitgebracht: "Mit denen hatte ich in den letzten sechs Wochen Geschlechtsverkehr." Das ist vorbildlich. Zur Aufklärung dient auch der anonyme Risikotest des WIR in Bochum.

Warum sind vor allem Männer betroffen?
Der- oder diejenige, der beim Sex penetriert wird, trägt das größere Risiko einer Infektion, unabhängig davon, ob es Frauen oder Männer sind. Männer, die Sex mit Männern haben, sind tendenziell sexuell aktiver als heterosexuelle Männer. Diese haben häufig mehr Sexualkontakte als Frauen, die noch am seltensten infiziert sind.

War das immer so?
Das war auch schon anders. In den 70er-Jahren hatten wir eine noch höhere Syphilis-Inzidenz und diese war ziemlich gleich verteilt. Der Anteil der Frauen lag bei ungefähr 40, bei Männern bei 60 Prozent. Höhere Zahlen gab es damals wegen der Pille und wegen des Rufes nach freier "Liebe". Dies hat zu einem Boom der sexuell übertragbaren Infektionen geführt, insbesondere der Syphilis. Heute haben wir Medikamente, die wieder eine freie "Liebe" ermöglichen, nach langen Jahren, in denen man aus Schutz vor HIV ein Kondom benutzen musste.

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Welche Formen meinen Sie?
Wer die PrEP richtig einnimmt, also die Prä-Expositions Prophylaxe, ist zu mehr als 95% vor einer HIV-Infektion geschützt. Aber die PrEP schützt eben nur vor HIV. Trotzdem ist die PrEP eine Erfolgsgeschichte, weil die Leute dadurch in die Gesundheitsversorgung eintreten. Sie lassen sich testen und bekommen so auch Diagnosen über andere Infektionen beziehungsweise Krankheiten und können beraten und behandelt werden.

Aber am Ende helfen nur Kondome?
Ja. Beim Oralverkehr ist das noch immer unüblich, aber auch hierbei kann man sich anstecken. Kondome helfen bei bakteriellen Schmierinfektionen zu 50 bis 80 Prozent. Schauen Sie sich an, der Kondomkauf ist in Deutschland so hoch wie nie. Und trotzdem sehen wir jetzt diesen Anstieg von sexuell übertragbaren Infektionen. Und natürlich sind das "nur" 8000 Syphilis-Fälle. Wir haben aber allein etwa 300.000 Infizierte mit Chlamydien. Wir müssen die Aufklärungsmaßnahmen deutlich verstärken.

Wie?
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat eine sehr gute und sinnvolle Kampagne gemacht. ´"Juckt's im Schritt´" war einer der Sprüche: Wer Symptome hat, solle sich testen lassen. Nun muss der zweite Schritt folgen. Wir müssen darüber aufklären, dass 80 Prozent der STI ohne Symptome sind. Jeder Einzelne muss checken, ob er infiziert ist oder sein könnte. Und nach unserer Erfahrung ist die Wahrscheinlichkeit, nach vier bis fünf unterschiedlichen Sexualpartnern eine STI erworben zu haben, sehr hoch, also sollte man sich untersuchen lassen. Denn auch ohne Symptome können die Langzeitfolgen schwer sein. Tumore, Analgeschwüre, Verkleben der Ei- oder Samenleiter, Unfruchtbarkeit und weitere Erkrankungen können auftreten.

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Man kennt ja diese unangenehmen Anrufe aus dem Fernsehen, wenn Menschen ihre ehemaligen Sexualpartner über ihre Infektion aufklären. Raten Sie dazu?
Ja, natürlich. Wir bieten aber auch an, die Partner anonymisiert zu benachrichtigen. Die Patienten bekommen dann einen einmaligen Zugang zu unserer Website, auf der sie E-Mails oder SMS an ihre Sexualpartner*innen schicken können. Das sind vorformulierte Textbausteine: Von "Wir hatten Sex, jetzt lass dich auch mal untersuchen" oder auch konkreter "Ich habe einen Gonorrhoe und es wäre gut, wenn du dich auch untersuchen ließest" oder auch unpersönlicher: "Sie hatten Sex mit jemandem, der eine Infektion hat, es wäre günstig, wenn Sie sich untersuchen lassen würden."

Wenn man die Diagnose Syphilis bekommen hat, wie sind die Therapiechancen?
Gut. Wir haben das Glück, dass Treponema pallidum, also die Bakterien, die Syphilis verursachen, noch nicht gegen Penicillin resistent sind. Sie lassen sich in den frühen Stadien gut behandeln. Wenn allerdings bereits neurologische Schäden aufgetreten sind, sind diese nicht mehr vollständig reversibel, also rückgängig zu machen.

Was bedeutet Corona für die Verbreitung?
Da Bordelle, Saunen, Swingerclubs und so weiter jetzt geschlossen sind und somit gezielte Aufklärung, Testung und Therapie bei Menschen, die Sex anbieten und nachfragen, nicht mehr möglich sind, wird es schwieriger, Infektionen zu verhindern. Menschen treffen sich privat, dort kann keine Präventionsarbeit geleistet werden. Das wird zu einem Anstieg der STI führen, wie erste Hinweise auch zeigen. Allerdings wird es einen Meldeverzug geben, weil viele Menschen Angst haben sich testen zu lassen. Das Ergebnis wird eine höhere Dunkelziffer und damit die Gefahr von mehr Neuinfektionen sein.

Was raten Sie jungen Menschen im Hinblick auf ihr Sexualverhalten?
Wichtig ist es, den Mut zu haben, mit seinem Partner über das Sexualverhalten zu sprechen. Zum Beispiel: Wie viele Sexualpartner hattest du? Sollten wir bei den ersten Sexualkontakten Kondome nutzen, sollen wir uns auf STI testen lassen, bevor wir Geschlechtsverkehr haben? Auch hier gibt der Risikotest viele Antworten. So wie man selbstverständlich darüber redet, wo man essen gehen möchte, sollte man auch über gesunden Sex sprechen. Weil Sexualität tabuisiert ist und STI ein Stigma bedeuten, haben viele Leute Hemmungen, beim Vorspiel ein Kondom aus der Tasche zu ziehen, weil sie überlegen, was denkt der andere dann von mir. Man sollte offen kommunizieren, Ängste und Risiken aus- und besprechen.

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