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Gesundheit

Wie sexistische Medizin Frauenleben gefährdet

Im Gesundheitssektor gilt der männliche Körper seit Jahrhunderten als Standard – mit zum Teil verheerenden Folgen. Die Gendermedizin soll das ändern.
Illustration: imago | Ikon Images

Lohnunterschiede, Sexismus und ganz anderen geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten sind für viele Menschen eindeutige Beweise dafür, dass wir in einer patriarchalischen Gesellschaft leben. Eines der ultimativen Beispiele stammt allerdings aus dem medizinischen Bereich, in dem der männliche Körper lange Zeit stellvertretend für die gesamte Menschheit stand: Das begann bei anatomischen Zeichnungen, Darstellungen von Symptomen und gipfelte in klinischen Studien, in denen Frauen ausgespart wurden. Valium etwa wurde nie an Frauen getestet.

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Das ist ein Problem, weil der weibliche Körper anders funktioniert, als der männliche: Frauen haben im Durchschnitt einen höheren Körperfettanteil, dafür einen geringeren Körperwasseranteil. Ihre Organe sind stärker durchblutet und ihre Nieren leisten im Gegensatz zu denen der Männer zehn Prozent weniger. Auch heute ist die Zahl der Probandinnen niedrig, wodurch Frauen später häufiger von Nebenwirkungen betroffen sind. All das geht aus verschiedenen Studien hervor, nachzulesen beispielsweise im Buch Gesundheit: Eine Frage des Geschlechts. Zum Umbruch kam es erst in den 90er-Jahren: Die Frauenbewegung forderte die Beachtung biologischer Unterschiede zwischen den Geschlechtern und die Berücksichtigung des Faktors Geschlecht in allen Bereichen. Die Gendermedizin war geboren.

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Jeanette Strametz-Juranek ist ärztliche Leiterin des Rehabilitationszentrums der PVA im Burgenland und Gründerin der Österreichischen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin. Im Gespräch mit Broadly erklärt sie, was sich in der Medikamentenforschung ändern muss, warum junge Frauen wirklich nicht rauchen sollten und weshalb Gendermedizin die Medizin des 21. Jahrhunderts werden sollte.

Broadly: In der Gendermedizin geht es um Unterschiede zwischen Mann und Frau. Worüber definiert sich dabei das Geschlecht? Sind es die Genitalien, Hormone, Chromosomen?
Jeanette Strametz-Juranek: Grundsätzlich definiert sich das Geschlecht bei der Geburt über das äußere Genital. Das begleitete uns das ganze Leben und der Großteil der Menschen ist mit dem zugewiesenen Geschlecht zufrieden. Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind teilweise hormonell bedingt, teilweise anatomisch oder genetisch. Dass Männer im Durchschnitt größer sind als Frauen, eine andere Muskelmasse und Knochenaufbau haben – ich glaube, das sollte man einfach wissen. Auch dass Frauen Medikamente anders verstoffwechseln sollte Basiswissen sein, wenn man Medikamente verschreibt.

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"Die vorherrschende Meinung war: Das ist Feminismus, das hat nichts mit Medizin zu tun."

Sie haben im Jahr 1991 promoviert. Wann haben Sie angefangen, sich für geschlechterspezifische Aspekte zu interessieren?
Das war in meiner Habilitation, etwa im Jahr 2003. Da habe ich das Thema Herzinsuffizienz und Herztransplantation behandelt. Eine Professorin in der Kommission hat mich gefragt: „Und was ist mit den Frauen?" Ich habe damals unbewusst lauter Männer in meiner Arbeit gehabt und konnte die Frage der Professorin nicht beantworten. Das hat mich geärgert, also habe ich begonnen zu recherchieren und damals noch fast gar nichts zu dem Thema gefunden. Später wechselte ich in Stabsstelle Gender Mainstreaming an der MedUni Wien und startete Ringvorlesungen zum Thema. Am Anfang war es irrsinnig schwierig, Studierende dafür zu gewinnen. Es waren kaum Männer dabei.

Warum war es so schwierig, die Studierenden für das Thema zu begeistern?
Die vorherrschende Meinung war: Das ist Feminismus, das hat nichts mit Medizin zu tun. Da muss man sehr achtsam sein. Gendermedizin hat an sich nichts mit Frauen oder Männern isoliert zu tun, sondern immer gemeinsam.


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Eine Studie aus dem Jahr 2001 hat ergeben, dass nur ein Viertel der fast 500 untersuchten Medikamentenstudien Frauen überhaupt als Probandinnen mit einbezogen. Wie kann das sein?
Wir leben nach wie vor in einer männlichen Welt der Medizin. Wir leben in einer Welt, für die der weiße, gesunde Mann die Norm ist. Dabei geht es nicht darum, Frauen in der Forschung grundsätzlich auszuschließen. Man sagt, dass Frauen schwanger werden können und man sie während der Studien nicht gefährden möchte. Das ist nicht mal böse gemeint. Tatsache ist, dass man trotzdem vergessen hat, Frauen zu inkludieren. Es macht wenig Sinn, Medizin, die für den Mann erfunden wurde, einfach auf die Frauen zu übertragen. Heute ist es so, dass es gesetzliche Grundlagen für die Inklusion von Frauen in Studien gibt. Die paradoxe Situation, die sich daraus ergibt, zeigt sich in einer Studie, die ich unlängst gelesen habe. In dieser Studie geht es um ein blutdrucksenkendes Präparat. Frauen sind an der Studie beteiligt, wenn auch in einem niedrigen Prozentsatz. Und trotzdem werden sie gemeinsam mit den Männern ausgewertet.

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Es wird also der Durchschnitt der Ergebnisse hergenommen.
Richtig. Und damit tut man den Frauen nichts Gutes. Sie haben eine kleinere Körperoberfläche, eine andere Verteilung von Körperfett und Wasser. Ich bin hundertprozentig davon überzeugt, dass es viele Bereiche gibt, die mit einer geschlechterunspezifischen Analyse der Ergebnisse gar nicht gefunden werden. Ich habe unlängst mit jemandem darüber gesprochen, der gemeint hat, dass die Analysen bald kämen. Ich finde es faszinierend, dass man 50 Prozent der Bevölkerung sagt, dass die Analyse für sie später kommt.

Foto: freestocks.org | Pexels | CC0

Warum werden die Analysen der Ergebnisse trotzdem so gemacht?
Ich glaube, das liegt einerseits daran, dass in den Entscheidungsgremien hauptsächlich Männer sitzen. Andererseits herrscht oft eine Mentalität von „Das haben wir immer schon so gemacht". Das ist ein Satz, der Kritik abschüttelt wie ein nasser Hund das Wasser. Ich verliere die Contenance, wenn ich so etwas höre. Mit welcher Begründung kommen die Analysen für die Hälfte der Bevölkerung erst später? Wieso kommen nicht zuerst die Frauen dran?

Sie sind Expertin für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Welche Unterschiede gibt es zwischen den Geschlechtern?
Männer sterben immer noch häufiger an Herzerkrankungen, bei Frauen häufen sich allerdings die Schlaganfälle. Wenn ich beide Krankheiten zusammennehme, ist die Sterblichkeit bei der Frau höher. Frauen haben außerdem andere Symptome als Männer: Müdigkeit, Atemlosigkeit, Herzklopfen. Ich bin bei meiner Arbeit Frauen begegnet, denen nicht geglaubt wurde oder die einfach weitergeschickt wurden, ohne die wahre Ursache der Symptome zu erkennen. Es sind Symptome, die ebenso eine Gastritis, Infektion oder Blutarmut sein könnten. Trotzdem muss man Frauen motivieren, sich das Herz anschauen zu lassen. Frauen glauben immer, sie sterben an Krebs. Dabei ist der Tod durch eine Herz-Kreislauf-Erkrankung wahrscheinlicher.

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"Der Super-GAU sind Frauen, die rauchen, die Pille nehmen und vielleicht noch ein bisschen übergewichtig sind."

Wie unterscheidet sich der Aufbau der Gefäße bei Mann und Frau?
Es gibt zwei verschiedene Arten von Gefäßen: Arterien und Venen. Wenn wir über Herz-Kreislauf-Erkrankungen sprechen, geht es grundsätzlich um die Arterien. Sie sind mit einer Art Schutzschicht ausgekleidet: dem Endothel. Durch die körpereigenen Östrogene haben die Frauen mehr von diesem Endothel und sind besser vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschützt. Das ist der Grund dafür, dass Frauen bei ihrer Erkrankung im Durchschnitt zehn Jahre älter sind als Männer. Bei manchen Frauen wirkt dieser Schutz schwächer. Etwa bei jungen Frauen, die ein polyzystisches Ovarsyndrom haben. Diese Frauen haben ein mehrfach erhöhtes Risiko. Ebenso wie Frauen, die vorzeitig in den Wechsel kommen. Eine dritte Risikogruppe sind Frauen, die HIV-Medikation nehmen. Mittlerweile haben Menschen mit HIV, die sich in Behandlung befinden, fast eine normale Lebenserwartung. Aber woran die Menschen, und auch hier führen die Frauen, verstärkt versterben, sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In Österreich haben wir viele junge Frauen, die rauchen. Diese Frauen verlieren diesen Schutz komplett.

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Wieso verlieren Raucherinnen ihren Schutz?
Ganz einfach: Diese Innenschicht, das Endothel, produziert einen sehr stark gefäßerweiternden Stoff, das Stickstoffmonoxyd NO. Das schützt die Gefäße. Normalerweise produzieren Frauen davon mehr als Männer. Wenn eine Frau aber eine Zigarette raucht, fährt die Produktion dieses Schutzes komplett herunter, sie verliert ihn. Dann hat sie dasselbe Risiko wie ein Mann. Der Super-GAU sind Frauen, die rauchen, die Pille nehmen und vielleicht noch ein bisschen übergewichtig sind. Das sind Kandidatinnen, die wahrscheinlich in absehbarer Zeit eine Herz-Kreislauf-Erkrankung bekommen werden.

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Ist der Schutz durch das Rauchen für immer zerstört?
Nein. Wenn man mit dem Rauchen wieder aufhört, erholt sich das Gefäßsystem wieder. Nach zehn Jahren hat sich das Risiko dann wieder normalisiert.

"Wenn Sie mich fragen, ist Gendermedizin die Medizin des 21. Jahrhunderts."

Der Unterschied zwischen Mann und Frau wird seit Jahrhunderten auf die eine oder andere Weise betont. Wieso werden medizinische Unterschiede erst jetzt wahrgenommen?
Mein persönlicher Ansatz ist, dass das Wissen um diese Unterschiede viel innovatives Potential hat. Wenn der Glaubenssatz heißt, Männer sind das starke Geschlecht und die Medizin widerlegt das in manchen Belangen, dann kann das Strukturen aufbrechen. Ich sage das jetzt provokant: Das Unterdrücken der Weiblichkeit hat möglicherweise System. Wir sind noch in sehr engen Denkmustern, was das betrifft. Ich wünsche mir, dass diese Aspekte der Weiblichkeit, die ja auch ein Mann in sich trägt, endlich sein dürfen.

Ist Gendermedizin mittlerweile im Mainstream angekommen und genügend etabliert?
Nein, genügend etabliert ist sie bestimmt nicht. Genügend etabliert ist die dann, wenn sie z.B. in der Rehabilitation nicht mehr Alleinstellungsmerkmal unseres Hauses [Rehabilitationszentrum der PVA, Anm.] ist, sondern im Denken jedes Mediziners, jeder Medizinerin verankert ist. In der Sonderkrankensanstalt Rehabilitationszentrum Bad Tatzmannsdorf ist Gendermedizin in Form der GendeReha etabliert und in den Schulungen und Therapien werden auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede und die unterschiedlichen Bedürfnisse und Anforderungen von Frauen und Männern in der kardiovaskulären Rehabilitation berücksichtig. Mittlerweile gibt es Gendermedizin im Curriculum der medizinischen Universitäten, viele Fortbildungen und sogar einen eigenen Hochschullehrgang an der Medizinischen Universität Wien. Es gibt Kongresse. Wenn Sie mich fragen, ist Gendermedizin die Medizin des 21. Jahrhunderts.

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