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Wie ich bei einem Fetischdreh eine ungewöhnliche Familie kennenlernte

Field Notes: Anekdoten aus dem Arbeitsalltag bei VICE – Teil 4
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illustriert von Sina Schlerf
Field Notes: Anekdoten aus dem Arbeitsalltag bei VICE – Teil 4
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Dieser Artikel ist Teil von "The Final Issue", der letzten deutschen Printausgabe von VICE

Aus vielen Erfahrungen, die ich in acht Jahren bei VICE gemacht habe, schöpfe ich immer noch wie aus einem Schatz. Ich traf Dominas, Sexarbeiterinen, Drogenabhängige, Pädophile, Waffennarren, illegal in Deutschland Lebende, Sexualstraftäter in der Sicherungsverwahrung, aber auch einen Astronauten, der mir in einer Nacht im Observatorium auf dem Jungfraujoch die Sterne zeigte. Über alle könnte ich Geschichten erzählen. Eine davon handelt von einem fingerfertigen Chirurgen und Meister der Fetisch-Kleidung.

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Es war einer der letzten Drehs für Wild Germany, ein Reportage-Format, das VICE zwischen 2011 und 2013 im Auftrag von ZDFneo produzierte. In der Folge "Furry und Fetisch" zeigten wir Menschen, die sich gern als Tiere verkleiden. Die "Furrys" tun das als Teil der Cosplay-Szene. Die anderen, die wir für diese Folge trafen, weil es ihnen sexuelle Erfüllung bringt, sich als Tier zu fühlen und wie ein Pferd geritten, wie ein Hund erzogen oder wie ein Kätzchen gekrault zu werden.

Dabei trafen wir auch den Schöpfer der außergewöhnlich schönen und naturgetreuen Pferdekostüme der Tier-Fetisch-Szene. Es wurde bereits dunkel, als wir auf seinem kleinen Hof in einem winzigen Dorf bei Hannover ankamen. Ein streng blickender und sehr kontrolliert wirkender Mann erwartete uns vor einem Stallgebäude. Drinnen gab er uns eine Einführung in seine Welt der Pferdemasken, Trensen für Menschenköpfe, behuften High Heels und Sättel.

Ich stand da als Regisseurin in dieser Werkstatt, beobachtete das konzentriert arbeitende Drehteam und dachte, welches Privileg es ist, in diese vielen unterschiedlichen Lebensrealitäten reinzuschauen. Dieser Meister der minutiösen Bastelkunst war im zivilen Leben Chirurg. Nach dem Dreh lud er uns ein, in seinem Haus mit seiner Familie zu Abend zu essen. Wir willigten ein, aber der Gedanke, den ernsten Chirurgen in sein Haus zu begleiten, bereitete mir leichtes Unbehagen.

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Als er schließlich die Haustür öffnete, entfaltete sich die wärmste, freundlichste Atmosphäre, die man sich nur vorstellen kann. Eine hochschwangere Frau, umtobt von zwei oder drei Kleinkindern, lud uns freundlich an einen riesigen Tisch ein. Hier taute der Chirurg langsam auf und wurde fast herzlich. Wir saßen, aßen, lachten und wärmten uns in diesem Kontrast zu allem, was wir davor in der Scheune erlebt hatten. 

Denn wir wussten ja, wie es war, die Kreationen unseres Gastgebers in Aktion zu sehen.

Bei einer anderen Gelegenheit hatten wir ein Pärchen getroffen, das mit den Kostümen des Chirurgen ausgestattet eine erfüllte "Pferdemädchen und ihr Pferd"-Beziehung lebte. Sie sattelte ihren Freund täglich, um ihn dann zu reiten. Auf einer öffentlichen Wiese zeigten uns die beiden, wie der Teil aussieht, der nicht im Schlafzimmer passiert und als Vorspiel dient. Wir staunten, mit welcher Ernsthaftigkeit die beiden ihr Spiel lebten. 

Aus Spaß fragte ich unseren Moderator, ob er nicht auch mal das Pferd sein wolle. Und er wollte! So entstand in diesem Moment eine meiner Lieblingsszenen aus der gesamten Zeit: Er ließ sich die Trense anbringen, nahm bereitwillig das Mundstück zwischen die Zähne und schon ritt ihn die kleine, energische rothaarige Frau über die Wiese.

Anika Knudsen war von 2011 bis 2019 bei VICE, zuletzt als Senior Producer / Director.