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GAMES

Vom charismatischen Helden zum kannibalistischen Vergewaltiger—Ein Interview mit Nolan North

Attraktiver Kunstdieb, Batman-Bösewicht oder Psychopath in der Zombie-Apokalypse: Dieser Schauspieler leiht allen seine Stimme. Wir haben den George Clooney der Gaming-Branche getroffen.
Foto: Lisa Ludwig

Egal wie oft versucht wird, Games als Realitätsflucht für sozial isolierte Teenager abzutun: Videospiele sind mitten in der Gesellschaft angekommen und das ist auch gut so. Das liegt zum einen daran, dass die heutige, fortgeschrittene Technik deutlich zugänglicher ist als noch vor ein paar Jahrzehnten, zum anderen hat sich aber auch das Medium als solches weiterentwickelt. Hinter den Spielecharakteren von heute stecken in vielen Fällen richtige Schauspieler, deren Bewegungen und Stimmen aufgezeichnet und ins Spiel übertragen werden.

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Der wohl bekannteste von ihnen ist Nolan North, den man guten Gewissens als den George Clooney der Gaming-Branche bezeichnen könnte. Als er in Berlin war, um die neue Uncharted-Collection vorzustellen—schließlich gehört deren Protagonist Nathan Drake zu seinen bekanntesten Rollen—, haben wir die Chance genutzt, uns mit dem Mann hinter der Stimme zusammenzusetzen.

Herausgekommen ist ein Gespräch über Unsportlichkeit, traumatische Erlebnisse mit The Last of Us und die Frage, was Sprunggeräusche und laute Darmtätigkeit gemeinsam haben.

VICE: Es ist ein bisschen seltsam, neben einem Typen zu sitzen, den ich virtuell schon Hunderte Male umgebracht habe. Was sagen denn die Eltern der Schulfreunde deiner Kinder dazu, wenn du erzählst, dass du der Typ bist, den ihre Kinder über den Bildschirm steuern?
Nolan North: Meine Kinder bringen mich auch jeden Tag mehrmals um. Ich verlange von ihnen allerdings, dass sie sehr, sehr gut spielen. Sie sind damit aufgewachsen, dass ich solche Jobs mache, das war für sie immer ganz normal und eigentlich finden sie es nur dann cool, wenn ihre Freunde in der Schule herausfinden, was ihr Vater beruflich macht. Ich besorge ihnen dann T-Shirts und so. So was macht mich in den Augen meiner Kinder cool. Ich treffe mittlerweile allerdings auch Eltern, die sagen „Oh, ich liebe Uncharted! Meine Frau und ich haben das kürzlich mal angemacht!"—und das sind Leute, die älter sind als ich. Videospiele sind so eine fantastische Erfahrung geworden, dass sie alle möglichen Alters- und Gesellschaftsgruppen ansprechen. Meine Nichte arbeitet mit einem Arzt in Florida zusammen und hat mir erzählt, dass er total ausgerastet ist, als er erfahren hat, dass ICH den Penguin in der Arkham-Reihe spreche. Wie ein richtiger Fanboy. Der Typ ist Neurochirurg!

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Ich habe den Eindruck, dass sich die Leute mittlerweile auch viel mehr mit den Sprechern hinter den Figuren beschäftigen. Gerade auf Tumblr gibt es eine richtiggehende Subkultur, deren Anhänger dann beispielsweise offen damit umgehen, dass sie in Nathan Drake verschossen sind und sich deswegen auch mit dir als Schauspieler beschäftigen.
Das habe ich tatsächlich noch nicht mitbekommen, finde es aber auch gar nicht so gruselig. Gerade bei diesem speziellen Charakter kann ich das sogar verstehen—aber das bin ja nicht ich. Frauen mögen Nathan Drake wahrscheinlich, weil er so stark ist. Ich selbst komme aber kaum eine Leiter hoch. Es ist wirklich absurd. Ich weiß auch gar nicht, was er für Knochen haben muss. Vielleicht wie ein Vogel? Sie können nicht so schwer sein, sonst könnte er sich nicht so einfach überall hochziehen. Es gibt diesen einen Kletter-Move, den Drake macht, wo er an einer Wand hängt und von da aus zum nächsthöheren Absatz springt. „Das ist doch lächerlich!", habe ich mir immer gedacht, bis ich es einen Stuntman habe machen sehen.

Was? Echt?!
Er hat seine Beine angezogen und ist einfach gesprungen. Wie eine Katze. [versucht, den Bewegungsablauf nachzuvollziehen] Es ist unglaublich, wie viel Kraft man dafür haben muss. Könnte irgendein Mensch solche Aktionen so oft machen, wie es Drake im Spiel tut? Wahrscheinlich nicht. Aber ich habe es diesen Typ zweimal machen sehen. Er hängt an einer Wand und springt sie einfach hoch. Frag nicht, ich habe so was vorher nicht für möglich gehalten.

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Du musst zwar nicht die Stunts machen, aber die Geräusche dazu. Wie kann ich mir das vorstellen? Stehst du da in der Kabine und versuchst dir vorzustellen, was für ein Geräusch du machen würdest, wenn du körperlich dazu in der Lage wärst, von Wand zu Wand zu springen?
Oft machen wir es einfach so, dass jemand „Du springst jetzt" sagt und ich nur frage „Wie hoch?". Am Besten ist es allerdings, und so mache ich das auch am liebsten, wenn wir die animierte Sequenz parallel laufen lassen. Der Designer bei Naughty Dog spielt das Level, sie schneiden das mit und dann komme ich ins Spiel. Ich gucke mir an, was passiert und mache die Geräusche dann, wenn die jeweilige Aktion kommt. Ich „jage" quasi das Bild. [spult diverse Stöhn- und Atemgeräusche ab] Wir machen das wirklich so!

Das klang wirklich sehr überzeugend.
Das Lustige ist: Wenn du dir das nachher noch mal anhörst, wirst du dir denken „Verdammt, das klingt wirklich, als würde gerade jemand springen". Du müsstest dir allerdings mal Videoaufnahmen davon angucken, wie das Ganze bei der Aufnahme aussieht. Total albern. Am lustigsten ist es eigentlich, wenn man das „Ich schiebe gerade irgendwas"-Geräusch macht. Es klingt, als hätte jemand Verstopfung. Ich warte eigentlich die ganze Zeit nur darauf, dass irgendjemand mal diese ganzen Töne nimmt und über irgendetwas Anstößiges drüberlegt.

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Spiele werden immer immersiver, sie saugen den Spieler richtiggehend in sich rein, und wer stundenlang spielt, verschmilzt irgendwann mit dem Charakter. Hast du dadurch das Gefühl, dass die Fans deiner Spiele sich dir näher fühlen als die Leute, die dich in einem Film oder einer Serie sehen?
Das ist eine sehr gute Frage, die mir tatsächlich noch niemand gestellt hat. Es ist anders, einen zweistündigen Film im Kino zu sehen, als ein Videospiel zu spielen. Nach einem Film sagen die Leute „Oh, ich liebe Tom Cruise", aber niemand sagt „Ich liebe Jack Reacher". Da geht es nicht um den Charakter, den die Person verkörpert. Die TV-Serie, in der ich aktuell zu sehen bin, heißt Pretty Little Liars und ich spiele da einen der Väter. Wenn mich Leute treffen, sagen sie „Wow, sie spielen Mr. Hastings, wie schön, sie kennenzulernen!"—dabei mache ich da eigentlich gar nicht so viel. Ich unterstütze nur die Geschichten der anderen Darsteller, was meine Aufgabe als Nebendarsteller ist. Ich bin ja nicht der Hauptcharakter.

Aber bei Nathan Drake … Du hast absolut Recht. Man verbringt Stunden mit einem Charakter und bestimmt dann auch noch, was er tut. „Immersiv" ist das perfekte Wort dafür: Du BIST der Charakter. Deswegen hat man eine ganz andere Empathie für eine Figur in einem Videospiel. Wenn also jemand sagt „Ich liebe Nathan Drake", meint die Person damit ja eigentlich, was sie mit dieser Figur verbindet. Nicht mich, der diese Figur spielt. Und das ist total OK für mich. Die Leute müssen nicht sagen, dass sie Nolan North lieben.

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Links: Nolan North, glücklich. Rechts: die Autorin, verstört.

Wie fühlt es sich im Vergleich dazu an, einen Charakter wie David aus The Last of Us zu spielen, der nicht darauf angelegt ist, gemocht zu werden? Der ein wirklich ekliger, schlechter Mensch ist.
Eigentlich ist er ein guter Mensch. Er ist einfach ein Typ, der versucht zu überleben.

Auch wenn er dazu ein Mädchen vergewaltigen muss. Und sie anschließend vielleicht isst.
Das stimmt nicht! Er hat versucht, sie zu retten. Wir wissen auch nicht, in welchen Umständen er lebt. Würde er hier einfach über die Straße laufen, wäre er ein gefährlicher Vergewaltiger und Mörder, aber er lebt in einer apokalyptischen Gesellschaft, sie ist alt genug … Vor 150 Jahren war es ganz normal, dass Leute verheiratet wurden, die noch jünger als Ellie waren. Was, wenn in seiner Gruppe alle Frauen keine Kinder mehr bekommen konnten oder krank waren? Was, wenn sie jemanden gebraucht haben, der dabei helfen könnte, die menschliche Rasse am Leben zu erhalten? Er ist jeden Tag draußen und sucht nach Nahrung. Ich bin mir sicher, er würde lieber ein Schinkenbrot essen als Menschen. Er hat sie bei der Jagd kennengelernt und war von ihrem Mut und ihrer Beharrlichkeit beeindruckt—vielleicht war er ja in sie verliebt? [längere Stille] Du merkst: Man muss für sich selbst als Schauspieler ja auch immer rechtfertigen, warum man einen bestimmten Charakter spielt.

Gut, am Schluss dreht er total ab. Alles steht in Flammen, er hat alles verloren, Menschen sind tot—da verliert er seinen Verstand. [wechselt in die Stimme des Charakters] Run, Rabbit, run! Tiny little pieces, Ellie!

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Motherboard: Gibt es in der Gaming-Community ein Sexismusproblem?

Das darfst du echt nicht machen! Ich musste das Spiel an einer Stelle pausieren und gefühlte zehn Zigaretten rauchen. Es war wirklich schlimm für mich.
[lautes Lachen] Ich LIEBE es, dass du das sagst! Aber es ist wirklich so: Bei jedem Charakter, den ich spiele, muss ich zumindest ein klitzekleines bisschen Gemeinsamkeit zu mir selbst finden. Bei David war es einfach: Alles ist verloren. Wir essen Menschen. Und da kommt dieser Engel, ein Schimmer der Hoffnung, und er hat so etwas so lange nicht mehr gefühlt. Er glaubt vielleicht, dass es Liebe ist. Die Leute fragen mich dann „Ist das dein Ernst?!", aber das ist wirklich, wie ich ihn mir vorstelle. Wenn das nicht da ist, ist es einfach nur ein weiterer böser Typ, ohne Facetten, ohne Tiefe. Du musst das Level jetzt einfach noch mal spielen und darüber nachdenken, was ich dir eben gesagt habe.

Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich ihn immer noch abstechen möchte?
Nein, du musst es ja tun. Als alles um ihn herum zusammenbricht, rastet er ja wirklich aus. Er empfindet nur noch blinden Hass und möchte dich töten. Aber bevor er seinen Verstand verliert? Ich glaube, da ist er einfach nur ein Mann, der verzweifelt versucht, alles zusammenzuhalten. Ist es nicht auch irgendwie schön, wie er am Anfang rüberkommt? Wie er aussieht, seine freundlichen Augen …

Ich glaube, wir werden uns da nicht mehr einig. Vielen Dank für das Gespräch!

Lisa schläft wegen manchen Charakteren, denen Nolan North seine Stimme geliehen hat, immer noch schlecht. Folgt ihr bei Twitter.