Eine blonde Frau, Hannah Brooks, steht am Strand in Thailand vor einer Statue
Foto: Nikky G

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Drogen

Ein cleanes Leben ist langweilig – und wunderschön

Heroin und Chaos waren mein Alltag. Jetzt muss ich lernen, die Normalität zu genießen. Und aufhören, vor allem wegzulaufen.

Hannah Brooks hat für VICE schon ausführlich über ihre Heroinsucht, ihren Entzug und ihren Rückfall geschrieben. Jetzt erzählt sie, wie es ihr in ihrem neuen, cleanen Leben im Hope House in Thailand ergeht.

Den Kopf ans Fenster gelehnt schaue ich raus. Ich sitze hinten in einem großen Geländewagen, wir fahren von Si Racha nach Bang Saray, einem Fischerdorf außerhalb von Pattaya an der Ostküste Thailands. Der Fahrer hält an einem 7-Eleven, dort verkündet ein großes Plakat: "Kinderhandel zum Betteln ist illegal". An einem Obststand kaufe ich einen Smoothie und zünde mir eine Zigarette an. Ich sehe mein Spiegelbild in einer Fensterscheibe und bin überrascht.

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Meine Haare sind blonder, meine Haut schon brauner. Zwischen den Lippen die weiße Mentholkippe. Ich bin clean. Und so sehe ich auch aus. Gerade komme ich aus der Entzugsklinik.

Akiko, eine 22-jährige Heroinabhängige aus Australien, verlässt die Klinik mit mir. Wir sind schon mal zusammen aus dem Entzug gekommen und haben dann gleich wieder Drogen genommen. Diesmal checken wir uns direkt im Hope House ein, einem Heim für cleanes Leben im Fischerdorf Bang Saray. Dort fühlen wir uns im Moment am sichersten. Zu Hause ist es für Akiko und mich zu gefährlich. Wenn wir wieder nach Australien, in die Ruinen unserer Sucht, zurückkehren, dann kommt der Impuls zurück, uns Drogen zu schießen. Dort sind zu viele Erinnerungen. Also bleiben wir in Thailand, in diesem Gebäudekomplex mit Pool und Palmen, und drängen uns aneinander wie frierende Welpen.


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Manchmal wusste ich schon vor dem Ende meines Entzugs, dass ich wieder was nehmen würde. Andere Male kamen die Umstände zwischen mich und meine guten Vorsätze. Einmal holte mich ein Mitglied von Narcotics Anonymous vom Entzug ab. Ich kannte sie nicht, aber man sagte mir, dass ich ihr trauen könne und dass wir uns verstehen würden. Sie hatte in dem australischen Kultfilm Dogs in Space mitgespielt und was mit Nick Cave gehabt. Unter den Junkies von Down Under war sie die Königin. Sie hatte nach zehn Jahren ohne Drogen einen Rückfall gehabt, aber war seit neun Monaten wieder clean.

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Auf der Heimfahrt fragte sie, ob ich noch Verlangen nach Stoff hätte.

"Ja, aber nicht all zu schlimm. Ich weiß, das wird nachlassen."

Sie starrte geradeaus. "Willst du mal?"

"Was?"

"Willst du mal was kosten?"

Meine Handflächen wurden nass, mein Herz schlug schneller. Ich hatte gerade eine Woche Entzug gemacht: schwitzen, zittern, erbrechen. Wollte ich das noch mal durchmachen?

"Nur ein Mal", versprach ich mir selbst.

Wir fuhren zum Haus meines Dealers. Dröhnten uns zu und unterhielten uns über ihre Jugend in einer italienischen Kommune und über Folk-Musik. Wir machten den Rest des Stoffs weg, rieben uns Lippenstift auf die Wangen und gingen zum Treffen von Narcotics Anonymous. Wo ich eine Runde Applaus bekam, weil ich clean aus der Klinik gekommen war.


Wenn ich jetzt aufwache, ist es hell. Mein Zimmer ist mir kurz fremd. Ich habe bis 7 Uhr geschlafen, länger als seit Monaten. Es ist still, ich bin allein. Ein seltsames Gefühl – in der Klinik war ich ständig von 30 Leuten umgeben. Ich stehe auf und streife umher. Das Haus ist groß und weiß und hat drei Stockwerke. Draußen rennt ein pummeliger Welpe auf mich zu. Neben dem Haus steht eine wackelige Hütte, vor der Kinder und dürre Hühner herumwuseln. Vor dem Tor warten ein dunkelbraunes Pferd und ein Rudel Straßenhunde. Angeblich hat das Rudel dem vorigen Hund des Hope House ein Bein abgerissen. Ich schließe das Tor immer sorgfältig.


Viel passiert hier nicht.

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Ich bleibe clean. Ich befolge die Regeln des Wohnheims. Ich bin pünktlich. Ich schreibe. Ich radle zum Strand, wo Jungen am Ufer joggen und trainieren, um Muay-Thai-Boxer zu werden. Ich höre nur 60er- und 70er-Folk. Alles andere ist mir zu aufgeregt. Tagsüber bete ich in einem Tempel. Abends gehe ich auf den Tempelmarkt und kaufe Vintage-Badeanzüge, die sonst niemand will. Ich mache mein Bett, kämme und wasche mein Haar.

Es ist ein einfaches Leben. Morgens kaufe ich Obst fürs Frühstück. Ich klaue nichts, obwohl ich gerne würde – das hat mir früher immer einen Nervenkitzel bereitet. Ich lasse mir Zeit und schaue die ganzen Mangos an. Ich rieche an ihnen. Drücke mit den Fingern sanft gegen die grellgelben Früchte. Solche Kleinigkeiten geben mir jetzt viel. Früher gab es mir nur viel, Drogen zu besorgen. Ich liebte Heroin, aber die Vorfreude aufs High liebte ich noch mehr. Ich lebte für den Moment, wenn ich eine volle Spritze hatte, die ich mir gleich setzen würde. Dieser Augenblick war perfekt. Ich war Gott. Ich war eine Königin. Alles andere war vergleichsweise eine Enttäuschung.


Als ich viel Heroin nahm, schaute ich spöttisch auf Leute, die ganz normale Sachen machten: joggen, Brot kaufen, in einem Bistro essen. Ich wollte mit ihrer Menschlichkeit nichts zu tun haben. Ich gönnte den anderen kein einfaches Leben und war erschöpft von der Komplexität, die meins regierte. Manchmal fühlte ich mich so unbeschreiblich müde. Dann schaute ich auf den Boden und stellte mir vor, wie ich mich hinlegte und einfach für immer liegen blieb. Die Erde wäre aufgeheizt von der Sonne und ich voller Frieden. Ich würde da liegen, bis der Boden mich verschlungen hätte. Oder vielleicht würde auch der Himmel abstürzen und alles zudecken, eine Wolke nach der anderen.

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Wir verwandeln uns alle irgendwie, hier im Hope House. Akiko holt ihre Bleistifte raus und zeichnet zum ersten Mal seit Jahren. Eine andere Mitbewohnerin, die britisch-jamaikanische Jester, trägt einen Mundschutz und tanzt auf ihrem Balkon zu altem R&B. Afids Zimmer ist im obersten Stock. Er ist Ägypter und sehr still – er war in die Revolution verwickelt.

"Mein Leben war wie ein Actionfilm", sagt er und erzählt von den Kämpfen, die er überstanden hat, high auf Heroin und LSD. Er schaut auf den Swimmingpool, an dem sich unsere Mitbewohner sonnen, und seufzt. "Das hier bin ich nicht gewohnt."


Mein Leben ist seit Jahren chaotisch, am schlimmsten war es in den Wochen vor diesem Entzug. Alles hatte sich angestaut: Die Polizei hatte mich so oft erwischt, dass die meisten Dealer sich nicht mehr trauten, mir was zu verkaufen. Ich konnte kein Sandwich riechen, ohne zu kotzen. Meine Arme sahen aus wie eine schlechte Stickerei. Mein Bruder wollte nicht mal meinen Namen aussprechen. Ich übte im Rückspiegel meines Autos lächeln, weil es nicht mehr von alleine ging. Das Chaos wuchs mir über den Kopf. Ich entschuldigte mich nicht mehr für das, was ich anstellte. Ich konnte ja doch nicht versprechen, dass es nie mehr vorkommen würde.

Mein Freund versuchte, mich zu retten. Er fuhr mich ständig zum Entzug, ich büxte ständig aus. Er brachte mich an den Strand, wo ich schwitzend in einem Boot lag. Er fuhr mich in eine Stadt und ich versuchte, aus dem fahrenden Auto zu springen. Er brachte mich in eine einsame Hütte auf einem Berg – aber direkt nach unserer Heimkehr war ich wieder beim Dealer. Daraufhin brachte er mich in meine übliche Entzugsklinik. Dort ließ ich mir drei Tage lang Heroin hin liefern, bevor ich ihn überzeugte, mich abzuholen, mich zum Dealer zu fahren, das Heroin zu bezahlen und meine Armbinde zu halten, während ich mir vor seinen Augen einen Schuss setzte. Ich versprach ihm, es sei das letzte Mal. Ich weiß nicht, warum er mir das glaubte, ich glaubte es ja selbst nicht. Aber auf den Schal, mit dem ich mir den Arm abgebunden hatte, schrieb ich mit blutigen Fingern: "Es ist vorbei." Ein Pakt mit mir selbst.

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Ich band den Schal um einen schweren Stein und bat meinen Freund, mich zum Leuchtturm zu fahren, wo ich den Stein von den Klippen ins dunkle Wasser warf.

Ich setzte mir den nächsten Schuss bei Sonnenaufgang.

Nicht lange darauf hörte ich auf, nach Hause zu kommen. Ich ertrug die Schuldgefühle, das ständige Lügen und Ausweichen nicht mehr. Es sei leichter für alle Beteiligten, wenn ich einfach verschwand, dachte ich.


Ohne das Chaos entspannt sich alles in mir. Ich schalte mehrere Gänge zurück, mein Griff lockert sich. Plötzlich sind da wieder Gefühle. Sanfte Gefühle, die so tief reichen, dass es mich überrascht. Früher balancierte ich auf einem Grat zwischen Apathie und extremen Emotionen. Etwas dazwischen gab es nicht.

"Hannah", sagt mir eine der Betreuerinnen im Hope, "du verwechselst Ängste mit Liebe."

Sie hat Recht. Wenn das Drama um mich rauschte, fühlte ich mich am besten. Hauptsache intensiv. Penetrante, ohrenzerstörende Musik. Wenn mir etwas zu naheging oder zu stabil wurde, sabotierte ich es. Ich mochte es, wenn nichts einfach war, weil ich das Leben nicht anders kannte.

"Du bist süchtig nach Chaos", sagt Henk, ein anderer Hope-Betreuer.


Ich bekomme eine Mail von Gabriella. Vor zehn Jahren liebte ich sie über alles. Seit zwei Jahren habe ich nichts von ihr gehört. Als Gabriella und ich uns trennten, fing ich mit dem Heroin an. Das Ende unserer Beziehung zerstörte mich. Dann hatte mein Vater einen Herzinfarkt, ich sah ihn zum ersten Mal seit Jahren. Ich fing an, mich selbst zu verletzen. Und irgendwann zog Gabriella heim nach Argentinien. Ich blieb in unserer Wohnung, vermisste sie und hasste mich dafür, dass ich unsere Beziehung nicht zusammenhalten konnte. Ich litt und wusste nicht, wie ich das ausdrücken sollte. Wie ich ihr meine Liebe zeigen konnte. Also schmiss ich Partys, auf die ich keine Lust hatte. Ich schlief nie. Manchmal ließ ich mich auf der Arbeit blicken. Die anderen Drogen, die ich nahm, wurden irgendwann nutzlos, also nahm ich Heroin.

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Es war eine bewusste Entscheidung: Ich werde Junkie, und dann können die anderen mal sehen. Zwei meiner Freundinnen waren an Heroin-Überdosen gestorben, bevor ich 23 war. Ich war mir darüber im Klaren, was diese Droge anstellt, und tat es trotzdem. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte, und hegte die kranke Vorstellung, dass das Junkie-Sein zu mir passte. Ja, die Folgen waren gravierend, aber ich war schließlich stark, ich würde klarkommen.

Jetzt, hier im Hope House, rauche ich eine ganze Schachtel Zigaretten und lese dabei immer wieder Gabriellas Mail: "Ich bin so stolz auf dich. Nicht wie eine Mutter, nicht aus Eitelkeit, aber weil ich ehrlich bewundere, dass du da bist und existierst. Diese Lebenskraft in dir ist etwas Großes und Seltenes." Ich bin und existiere.

Ich bin gerührt. Groß und selten. Ich liebe sie so sehr und weiß nicht, was ich sagen soll. Also antworte ich ihr nicht.


Langsam tun sich überall Risse auf, alles geht den Bach runter.

Ich fühle mich leer. Ich langweile mich. Ist das alles, was es im Leben gibt?

Bob, ein britischer Alkoholiker im Hope House, wird gebeten, das Wohnheim zu verlassen – weil er so respektlos gegenüber Frauen ist. Ein Typ namens Alexi ist die ganze Nacht wach und schläft bis Mittag. Jester sehen wir am Strand mit einer Masseurin spazieren, die ansonsten niemandem Massagen gibt. Charlie hat Thailand satt. "Ich will nach Hause", sagt er. "Ich will kaltes englisches Wetter, Tee und keine Mücken. Es reicht." Alan lässt sich in drei Wochen zehn Tattoos stechen.

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Wir benehmen uns daneben. Wir verursachen Drama, weil es sonst keins gibt. Wir streiten uns. Charlie und Alexi gehen einander ständig an die Gurgel. Beim Muay Thai hätte Charlie fast einen Trainer geschlagen. Jester und Bob tauschen beim Abendessen Beleidigungen aus. Die ganze Gruppe fängt an rumzuschreien, als Afid von Feminismus anfängt. Alexi sagt, Frauen würden weniger verdienen als Männer, weil wir weniger leisten. Frauen wären einfach nicht so gut in ihren Jobs. Am liebsten würde ich ihn umbringen. Stattdessen mache ich eine Saft-Fastenkur. Vier Tage lang esse ich keinen Bissen. Ich würde gern behaupten, ich tue das für meine Gesundheit, aber ich will einfach nur etwas Extremes fühlen, um gegen den trägen Alltag anzukommen. Als ich wieder esse, ist das Intensive vorbei. Ich vermisse es sofort.


Ich habe seit 100 Tagen kein Heroin oder eine andere bewusstseinsverändernde Droge genommen. Mein Gehirn wird jetzt unnütze Synapsen los, löscht den Müll.

Kalter Wind hinterm Bahnhof, die Züge rattern. Die Vene hebt sich dick unter der Haut, wie ein Ballon. Das Rascheln einer Papiertüte.

Stattdessen bilden sich jetzt neue Nervenverbindungen in meinem Kopf. Neue Erinnerungen.

Akikos Lächeln. Bei Sonnenuntergang am Strand von Bang Saray einen Papaya-Salat essen. Die Blumen, lila und orange, die ich bei Sonnenaufgang in den Ozean werfe.

Ich lerne, Höhepunkte und Tiefen zu erleben. Ich brauche inzwischen keine Ansichtstafel mit Gefühlen drauf, um festzustellen, was ich empfinde. Ich fühle mich nicht mehr wie gelähmt, wenn ich mich für ein Mittagessen entscheiden soll. Ich verstehe, dass ich nicht immer Recht haben muss. Ich sehe ein, dass ich nicht immer kriege, was ich will. Und dass ich manchmal etwas viel Besseres kriege, als ich mir überhaupt vorstellen konnte. Wenn ich jetzt nach vorn schaue, sehe ich da eine Zukunft. Und gehe auf sie zu.

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