Menschen

So kommst du wieder klar, wenn du ein grausames Bild oder Video gesehen hast

Wenn du im Internet über brutale Darstellungen stolperst, kann das der psychischen Gesundheit schaden. Eine Therapeutin gibt Tipps.
Katie Way
Brooklyn, US
Eine junge Frau sitzt an ihrem Schreibtisch vor ihrem Laptop und hält sich gestresst die Hand vors Gesicht – vielleicht hat sie gerade ein grausames Bild oder Video gesehen; wir geben Tipps, wie man am besten mit dieser Situation umgeht
Symbolfoto: mapodile via Getty Images

Ich habe das Gesicht des Mannes – oder das, was davon übrig war – nur eine Sekunde lang gesehen. Es war meine Schuld: Ich war dumm und gelangweilt genug, um mich durch einen Instagram-Post zu swipen, unter dem stand: "WARNUNG: Dieser Großwildjäger hat gerade eine Bärenkralle ins Gesicht überlebt!" Das Video, in dem der Mann einen Daumen nach oben in die Kamera hält, obwohl sein Gesicht nur noch ein blutroter Haufen Fleischbrei ist, hat sich direkt in mein Gehirn gebrannt. Ich wünschte, ich hätte es nie gesehen.

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Das Internet ist voll mit grausamer Gewalt. Selbst wenn du gar nicht bewusst danach suchst, ist es sehr wahrscheinlich, dass du irgendwann über ein unschönes Bild oder Video stolperst – gerade in Zeiten, in denen Aufnahmen von brutalen Übergriffen oder Unfällen quasi täglich viral gehen. Es ist ein schreckliches Gefühl, so etwas zu sehen. Und die Angst und den Ekel, die solche Bilder auslösen, wird man so schnell nicht wieder los.

Wenn bei solchen Aufnahmen noch Rassismus, Sexismus, Homophobie oder Transphobie hinzukommen, kann das Anschauen für Menschen, die zu der betroffenen Bevölkerungsgruppen gehören, noch viel schädlicher sein. Eine US-Studie aus dem Jahr 2018 bestätigt genau das: Die psychische Gesundheit von Schwarzen Erwachsenen litt signifikant, nachdem sie Videos gesehen hatten, in denen die Polizei unbewaffnete Schwarze Menschen tötet – sogar dann, wenn die Teilnehmenden der Studie die Menschen in den Aufnahmen nicht persönlich kannten.


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Laut Sheryl Ankrom, Therapeutin und Leiterin der Beratungsstelle Lifeline Behavioral Healthcare, spielt persönliches Trauma eine große Rolle, wenn man online von grausamen Bildern oder Videos getriggert wird. "Wenn Menschen, die einer Minderheit angehören, etwas sehen, in dem es um die Gruppe geht, mit der sie sich identifizieren, dann reagieren sie darauf viel heftiger", sagt sie. "Vielleicht werden sie dadurch an eine negative Erfahrung erinnert, die sie dann unter Umständen sogar noch mal durchleben."

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Ankrom sagt, dass Gewalt-Content nicht immer zu negativen Reaktionen bei den Zuschauenden führe. Aber die Menschen, die davon getriggert werden, hätten mit langanhaltenden, qualvollen Gefühlen zu kämpfen. "Wenn wir brutale Bilder sehen und diese als verstörend wahrnehmen, löst das eine Reaktion aus, die einem Trauma und einer Kampf-oder-Flucht-Reaktion sehr ähnlich ist", sagt Ankrom. Zudem spielten bei dieser Reaktion Dinge wie das derzeitige Stresslevel auch noch eine große Rolle.

Ständig mit solch grausamen Bildern konfrontiert zu sein, kann einen schwer belasten. So sollen Facebook-Angestellte, die den Content der Social-Media-Plattform prüfen und dabei regelmäßig mit Aufnahmen von Vergewaltigungen und Suiziden konfrontiert werden, Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt haben. Im Mai 2020 haben sich Facebook und die Angestellten in einem Rechtsstreit zu diesen Vorwürfen geeinigt. Der Konzern will 52 Millionen Dollar Entschädigung zahlen. 

Aber was kannst du selbst tun, wenn du im Internet etwas siehst, das du am liebsten für immer aus deinem Gedächtnis löschen würdest? Wir haben einige Strategien zusammentragen.

Kümmere dich zuerst um die körperlichen Symptome

Wenn dich ein grausames Bild triggert, können sowohl körperliche als auch psychische Symptome folgen – und wenn du dich zuerst um die körperlichen Symptome kümmerst, hilft das auch bei den psychischen. Dein Atem wird flach und deine Muskeln spannen sich an. Diese beiden Reaktionen führen dazu, dass dein Gehirn eine Menge Adrenalin und andere aufputschende Hormone ausschüttet. Quasi eine Art Überlebensreflex. "So hat man die nötige Energie und Stärke, um all das zu tun, was zum Überleben nötig ist", erklärt Ankrom. "Aber natürlich ist das Anschauen eines grausamen Bildes keine Situation, in der wir das alles brauchen."

Deswegen sind zwei Dinge wichtig, um wieder zur Ruhe zu kommen: tief ein- und ausatmen und die Muskeln lockern. "Durch die beruhigenden Atemzüge erhält das Gehirn die Nachricht, dass alles OK ist. Dann schüttet es die ganzen Hormone aus, die uns beim Entspannen helfen", sagt Ankrom. Idealerweise redest du dir dabei noch gut zu. Wenn dir das in dem Moment aber zu viel ist, sind die tiefen Atemzüge allein auch schon ein guter Weg zur Besserung.  

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Nimm Abstand – wortwörtlich und im übertragenen Sinn

Wenn es dir möglich ist, dann fahre deinen PC runter oder schließe die Smartphone-App, sobald du merkst, dass du etwas Grausames zu sehen bekommst. Mit das Beste, was du in dieser Situation tun kannst, ist nämlich, dich von dieser Situation zu distanzieren und den Trigger schnell beiseite zu legen. Geh am besten direkt eine Runde spazieren, um dich abzulenken.

Ankrom empfiehlt zusätzlich, durch Musik, Filme oder TV-Serien, die man gut findet, auf andere Gedanken zu kommen. Selbst ein schneller Anruf bei einer Freundin oder einem Freund kann helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Wichtig ist einfach, den unmittelbaren Horror und Ekel irgendwie zu überschreiben. Das kann dir auch helfen, wenn du dich später noch mal mit deinen Gefühlen auseinandersetzt. 

Aufdringliche Gedanken lassen sich nicht aufhalten – aber unterbrechen

Ein Bild, das dich erschüttert und dir den Tag versaut, wird dir sehr wahrscheinlich noch länger im Gedächtnis bleiben. Ankrom sagt, dass es normal sei, wenn man auch noch Wochen später an etwas Verstörendes denken muss. "Diese Bilder komplett zu blocken, ist quasi unmöglich, weil es sich dabei oft um sogenannte Intrusionen handelt – also Gedanken, die unkontrollierbar wiederkehren", erklärt die Therapeutin. "Man stößt auf einen Trigger, eine Erinnerung an die Erfahrung, und die Stressreaktion flammt erneut auf."

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Dennoch gebe es mehrere Optionen, die eigenen Gedankengänge in eine weniger aufreibende Richtung zu lenken. Eine Technik, die Ankrom vorschlägt, ist der Gedankenstop: "Wenn du merkst, dass du an gar nichts anderes mehr denken kannst, dann entscheide dich bewusst dazu, diese Gedanken zu unterbrechen, und rufe dabei im Zweifelsfall laut 'Stop!'", sagt sie. "Das ist nicht leicht, aber je öfter du es schaffst, dich auf etwas anderes zu konzentrieren, desto leichter wird es dir mit der Zeit fallen. Und desto automatischer sollte diese Reaktion in Zukunft folgen."

Ankrom kennt aber auch Tricks, mit denen du der körperlichen Reaktion entgegenwirken kannst – etwa die progressive Muskelentspannung. Dazu ist es laut der Therapeutin wichtig, gut auf sich selbst zu achten – also regelmäßig zu schlafen, zu essen und Sport zu treiben. Wenn die akute Stressreaktion auf die Erinnerung an die verstörenden Bilder auch nach einem Monat nicht besser wird, sei es sinnvoll, sich professionelle Hilfe zu holen.

Wappne dich für die Zukunft

Das versehentliche Anschauen von grausamen Videos lässt sich gut vermeiden, wenn du auf Social-Media-Plattformen wie Twitter, Facebook oder Reddit die Autoplay-Funktion deaktivierst. Bei vielen Browsern ist das ebenfalls möglich. Und bei Instagram solltest du die Posts ignorieren, die mit dem "Sensible Inhalte"-Warnhinweis versehen und erstmal unkenntlich gemacht wurden. Ebenfalls eine gute Taktik mit noch vielen weiteren Vorteilen: Mal eine längere Social-Media-Pause einlegen.

Es könnte sich zudem als smart erweisen, deine Familie und Freunde präventiv darum zu bitten, dich nicht zu kontaktieren, wenn in den Nachrichten über etwas Schreckliches berichtet wird, das dich triggern könnte. Auch wenn es meistens gut gemeint ist, wenn sie "nur mal fragen, wie es dir geht", könnte genau das dazu führen, dass du dir überhaupt erst die Bilder oder Videos anschaust, die du eigentlich meiden solltest.

Und natürlich solltest du auch selbst reflektieren, warum du manchmal in Versuchung gerätst, solche Aufnahmen anzuschauen. Wir haben im vergangenen Jahr so viele schreckliche Dinge erlebt und gesehen: die Zahlen der Corona-Infizierten und -Toten steigen stetig, die Polizei geht überall auf der Welt brutal gegen Menschen vor, Leute werden auf der Straße und in öffentlichen Verkehrsmittel angegriffen und so weiter. Du bist nicht verpflichtet, Dinge anzuschauen, die dir schaden. Grausame Bilder und Videos zu meiden, ist nicht das Gleiche, wie alles um dich herum komplett auszublenden. Es führt aber dazu, dass deine mentale Gesundheit nicht leidet, und macht dein Leben leichter.

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