Das Leben von Frauen, deren Angehörige im Gefängnis sitzen
Illustration by Julia Kuo

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Verbrechen

Das Leben von Frauen, deren Angehörige im Gefängnis sitzen

Die Härte des Justizsystems trifft nicht nur die Straftäter, die zum Teil lebenslang hinter Gittern bleiben müssen. Ihre Mütter, Töchter und Frauen gehen ebenfalls durch die Hölle.

Ich war 17, als mein Onkel ins Gefängnis musste. Wochenlang hat mir niemand davon erzählt, aber ich wusste ganz genau, dass etwas nicht stimmte, als meine Großmutter bei uns zuhause ans Telefon ging und plötzlich komplett weiß im Gesicht wurde. Am anderen Ende der Leitung war meine Mutter, die aus einem Restaurant in der Nähe des Strandes in Capri anrief. Sie hat die Nachricht gerade von der hysterischen Freundin meines Onkels gehört. Sie haben ihn festgenommen, schrie sie meine Oma über Telefon an.

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Mit einem einzigen Anruf hat sich alles verändert. Mit einem Schlag bestand unser Leben nicht mehr aus der Vorfreunde auf Familienfeiern und die Feiertage, sondern aus arrangierten Besuchsterminen und den Treffen mit den Anwälten. Der Mann, den wir als nette, großzügige und liebevolle Person kannten, wurde zu einer Nummer in einem System, das davon überzeugt war, dass er alles andere war als das.

Jedes Jahr gibt das Statistische Bundesamt die Strafvollzugsstatistik zur Zahl der inhaftierten Menschen in Deutschland heraus. Laut dem Bericht von 2015 waren es 61.737 Insassen, davon 58.225 Männer. Doch während es weniger als 4.000 weibliche Insassen in den Gefängnissen gibt, werden doch tausende von Frauen zu einem Leben verurteilt, das zwar nicht durch Gefängnismauern beschränkt wird, jedoch durch ihre Treue, die sie an die Menschen bindet, mit denen sie gezwungen sind, die Zeit abzusitzen.

Wenn man mit den Frauen spricht, die hinter den Straftätern stehen, wird deutlich, dass sie sich diese Rolle nicht ausgesucht haben. In neun von zehn Fällen beginnen ihre Geschichten mit der Beschreibung des Wetters oder eines eintönigen Arbeitstages—als wollten sie noch deutlicher machen, wie unglaublich normal alles war, bevor ein Ereignis ihr Leben grundlegend verändert hat.

„Ich war gerade in einem Abendkurs für Mandarin in der Uni, als mich ein Freund meines Vaters anrief und mir sagte, dass mein Vater verhaftet wurde", sagt Hattie, 24 Jahre alt.

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„Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich einfach zurück in die Klasse gegangen bin und die Stunde zu Ende gemacht habe. Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht einmal beunruhigt, weil sein Freund gesagt hatte, es hätte ein Missverständnis gegeben. Ich hatte keine Ahnung, dass die Sache wirklich ernst war oder dass er für so lange Zeit wegbleiben würde."

Mehr lesen: Wie es ist, Yogakurse in einem Frauengefängnis zu geben

Nach sechs Monaten Verhandlungszeit wurde Hatties Vater wegen der „wissentlichen Beteiligung an der Herstellung illegaler Substanzen durch einen Dritten" schuldig gesprochen. In anderen Worten: Er wollte sich an dem Drogengeschäft eines anderen beteiligen.

„Als der Richter das Urteil von neun Jahren Haft verlas, habe ich es nicht realisiert", sagt Hattie. „Ich sah ihn, wie er die Stufen runterlief und alles fühlte sich irgendwie dramatisch an, aber ich habe in diesem Moment nicht richtig verstanden, wie schlimm die Situation war."

Hattie blieb von da an die Verantwortung, sich um die Frau ihres Vaters und ihren Halbbruder zu kümmern, die finanzielle Unterstützung benötigten. Sie setzte die Uni für ein Jahr aus, während der Prozess immer noch lief. Sie gibt zwar zu, dass sie wegen ihres Vaters in ihrem eigenen Leben zurückstecken musste, nimmt sie es ihm nicht im Geringsten übel.

„Er ist immer noch mein Vater", sagt sie. „Im Vergleich zu den Vätern meiner Freund mag er vielleicht ein bewegtes Leben gehabt haben, aber das ändert nichts."

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Hattie ist nicht die Einzige, deren Leben durch den Schuldspruch eine neue Richtung eingeschlagen hat. Für manche Menschen werden die kriminellen Taten anderer zu einem alles bestimmenden Zustand. Der Versuch, gegen das Justizsystem zu kämpfen, das ihren Liebsten übel mitspielt, zu einem Vollzeitjob.

Lyn Ulbrichts Sohn Ross ist der Mann hinter Silk Road, einem Schwarzmarkt im Darknet. Er ist momentan in New York inhaftiert, wo er insgesamt fünf Freiheitsstrafen absitzt: zweimal lebenslänglich, weitere zwanzig Jahre, eine fünfjährige Haftstrafe und eine Haftstrafe von mehr als 15 Jahren. Ross ist 32 Jahre alt und wenn sein Versuch, das Urteil anzufechten, erfolglos bleibt, wird er für immer Gefängnis bleiben.

Nach einem umstrittenen Prozess hat es Ulbricht zu ihrer Aufgabe gemacht, die Inhaftierung ihres Sohns für das Gemeinwohl zu nutzen und gründete die Kampagne Free Ross. Sie hofft, damit nicht nur die Haftstrafe ihres Sohnes reduzieren zu können, sondern möchte auch die Drogenpolitik verändern, damit andere Familien nicht dasselbe Schicksal durchleben müssen.

Lyn Ulbricht (Mitte) mit ihrer Familie und ihrem Sohn Ross (rechts). Foto: Lyn Ulbricht

„Ich muss sicher sein, dass ich absolut alles mir mögliche getan habe, um ihn aus dieser Situation zu befreien. Ich fühle mich, als wäre ich dazu berufen. Ich fühle mich wie Frodo in Der Herr der Ringe: Warum ich? Warum habe ich den Ring? Ich bin die allerletzte Person auf der ganzen Welt, die sich um den Ring kümmern sollte! Man muss einfach nach vorne treten und sich der Herausforderung stellen", sagt sie.

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Doch sich der Herausforderung zu stellen, ist nicht immer einfach. Letztes Jahr erlitt Ulbricht einen Herzinfarkt und wurde in allerletzter Sekunde ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte haben Ulbricht gesagt, dass ihr Herz gesund ist—der Schmerz, ihren Sohn in Haft zu sehen, hat ihr wortwörtlich das Herz gebrochen.

„Es ist unerträglich, dass er dort drin ist und die Aussicht, dass er das Gefängnis nie wieder verlassen wird, ist niederschmetternd. Es ist so eine Verschwendung. Er ist ein wundervollen Mensch. Es tut weh, seinen Sohn nicht bei sich zuhause haben zu können oder zu darüber nachzudenken, dass er niemals eine eigene Familie oder Kinder haben wird oder einfach bei uns sein und mit uns essen kann."

„All unsere Besuche sind überwacht und eingeschränkt und all unsere Telefongespräche werden aufgezeichnet. Das ist das Schlimmste. Und deshalb setze ich mich so für ihn ein und kann nicht aufhören. Das ist einfach undenkbar für mich."

Ulbrichts neues Lebensziel spiegelt sich in jedem Aspekt ihres Lebens wieder und während sie ihre gesamte Zeit darauf verwendet, sich mit ihrer Kampagne für die Freilassung ihres Sohns einzusetzen, haben andere Schwierigkeiten damit, mit dem Leben nach der Zeit im Gefängnis zurecht zu kommen.

Als Saschas* Mann nach zwanzig Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen wurde, war es nicht einfach, sich wieder zurück in die Normalität zu kämpfen.

„Wenn jemand so lange hinter Gittern war, dann sind die Nachwirkungen immens", sagt sie. „Zwanzig Jahre lang haben wir uns immer nur bei den wöchentlichen Besuchszeiten gesehen. Als er endlich nach Hause kam, war er ständig wütend und genervt—nahezu gewalttätig."

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Nur zu wissen, dass eine solche lange Haftstrafe psychologische Konsequenzen haben würde, war keine Vorbereitung auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft.

„Der Schaden hörte nicht mit der Entlassung auf, weil es keine Hilfe für Familien von ehemaligen Insassen gibt. Es gibt keine Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Du wirst einfach raus in eine Welt geworfen, von der du jahrelang kein Teil mehr warst."

„Als er ins Gefängnis kam, war sein Sohn 8. Als er wieder rauskam war er 18. Er wusste nicht, wie man Smartphones benutzt oder das Internet—er nannte E-Mail-Adressen immer noch ‚E-Mail-Nummern'. Ein ganzes Jahrzehnt ist an ihm vorbei vergangen und wir mussten ihm helfen, herauszufinden, was während dieser Zeit passiert ist."

Dadurch wird deutlich, dass das Justizsystem, dass keinen Raum für individuelle Lösungsansätze bietet, nicht nur in Bezug auf seine Insassen versagt. Es trifft auch die Frauen, die außerhalb der Mauern auf ihre Liebsten warten.

Während unseres Interviews sagt mir Lyn Ulrbicht, dass ich Ross mögen würde, wenn ich ihn kennenlernen würde. Ich zweifle nicht daran, schließlich ist das Ding mit Ross und vielen anderen Straftätern: Sie sind einfach nur Menschen mit ganz normalen Familien. Sie sind der Sohn oder der Mann oder der Bruder von jemanden oder einfach nur ein Freund. Ihre Abwesenheit in der Welt da draußen geht weit über das Strafmaß hinaus.

„Ich verteidige Silk Road nicht", sagt Ulbricht. „Ich sage nicht, dass Ross keine schlechten Entscheidungen getroffen hat. Ich sage nicht, dass er nicht leichtsinnig war in seinen Zwanzigern. Ich nehme nicht alles hin, was er getan hat. Aber ich bin stolz auf ihn. Er ist ein guter Mensch. Er ist mein Sohn und ich werde ihn niemals im Stich lassen."


* Name wurde geändert