Trauer statt Freude: wenn Adoptionen depressiv machen
Illustrations by Ashley Goodall

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Mutterschaft

Trauer statt Freude: wenn Adoptionen depressiv machen

Im Gegensatz zur Wochenbettdepression ist nur wenig darüber bekannt, dass auch Adoptivmütter kurz nach einer Adoption unter Depressionen leiden können. Umso schlimmer ist es für Betroffene, wenn sie das Gefühl haben, dass sich der langersehnte Wunsch...

Als Melissa Fay Greene und ihr Mann nach Bulgarien fuhren, um ihren viereinhalb Jahre alten Adoptivsohn zu sich nach Hause zu holen, haben sie erwartet, dass sie euphorisch und glücklich sein würden—genau wie nach der Geburt ihrer vier leiblichen Kinder. Nachdem ihr ältestes Kind zur Universität gegangen ist, wollten Green und ihr Mann Don Samuel noch einmal unbedingt Familienzuwachs. Doch als sie dann zu Hause ankamen, erlebte Greene eine emotionale Talfahrt aus „Erschöpfung, Schlafmangel, Jetlag, Irritation, Reue, Panik und einem tiefen Gefühl der Einsamkeit."

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„Ich hatte plötzlich und vollkommen ohne Grund die Angst, ich könnte unser Familienglück zerstört haben, obwohl ich es eigentlich vergrößern wollte", sagt sie. „Ich hatte komplett vergessen, warum ich ein Kind adoptieren wollte oder warum ich überhaupt jemals dachte, dass es eine gute Idee wäre. Es war, als wäre jemand gekommen, um alles dem Erdboden gleichzumachen und mich einfach vor den Trümmern meines Lebens zurückzulassen."

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Als sie ihren Sohn 1999 adoptiert haben, so Greene, hat sie noch nie zuvor von Depressionen infolge einer Adoption gehört. Sie erfuhr erst viel später davon. Die Symptomatik ist ähnlich wie bei einer Wochenbettdepression: Die Betroffenen—es können beide Elternteile davon betroffen sein, allerdings tritt es häufiger bei Müttern auf—berichten meist von einem Gefühl aus Verzweiflung, Wut, Angst, Panik, Schuld und Erschöpfung. Außerdem leiden viele von ihnen unter Schlafproblemen, Gewichtsverlust oder -zunahme, Konzentrationsschwierigkeiten, dem Gefühl, wertlos zu sein und suizidalen Gedanken.

Im Vergleich zur Wochenbettdepression haben Depressionen nach einer Adoption bisher kaum Beachtung gefunden, denn anders als bei einer Wochenbettdepression kommt es nicht zu hormonellen Veränderungen wie infolge einer Geburt. Es gibt allerdings immer mehr Untersuchungen, die zeigen, dass Depressionen bei Adoptivmüttern und leiblichen Müttern ähnlich häufig auftreten. Eine Studie aus dem Jahr 2008 hat untersucht, wie viele Adoptivmütter nach einer Adoption unter Depressionen leiden. Dabei stellte man fest, dass 15,4 Prozent der Studienteilnehmerinnen unter depressiven Symptomen litten. Bei den leiblichen Müttern waren es derweil 10 bis 20 Prozent. Anderen Schätzungen zufolge variiert die Zahl der Eltern, die nach der Adoption unter Depressionen leiden, zwischen 10 und 32 Prozent.

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Trotz aller Ähnlichkeiten zur Wochenbettdepression haben Depressionen, die infolge einer Adoption auftreten, noch immer eine ganz eigene Charakteristik: Viele frischgebackene Adoptiveltern berichten von einem Gefühl von Schmerz und Verlust, wenn sie ihr Kind nach Hause gebracht haben. Zum Teil bringt dieser Moment auch viele ungelöste Konflikte, wenn ein Elternteil beispielsweise unfruchtbar ist, zum Vorschein. Andere haben Angst vor der Herausforderung, ein unter Umständen traumatisiertes Kind zu erziehen. Hinzu kommen meist auch noch die Strapazen des Adoptionsverfahrens selbst.

Ich habe versucht, nicht weiter darüber nachzudenken, meine Gefühle zu ignorieren und so zu tun, als wäre ich eine liebende Mutter.

„Alles in allem haben die größte Panik und die schlimmsten Depressionen ungefähr drei Wochen lang gedauert. Allerdings waren es die wohl längsten drei Wochen meines Lebens", sagt Greene. Medikamente, Zeit und die Unterstützung anderer waren die Dinge, die ihr letztlich geholfen haben. „Meine engsten Freunde meinten: ‚Tu einfach so. Er merkt nicht, dass du nur so tust. Tu einfach so, als wärst du die liebevollste Mutter, die er jemals gesehen hat.' Also habe ich versucht, nicht weiter darüber nachzudenken, meine Gefühle zu ignorieren und so zu tun, als wäre ich eine liebende Mutter. Das Bemuttern selbst—ihn zu baden, ihm die Haare zu waschen, ihn anzuziehen, zu füttern—schien dann nach und nach ein Gefühl von Liebe in mir zu wecken."

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Als Amy Rogers Nazarov und ihr Mann Ari ihren acht Monate alten Sohn Jake aus Südkorea adoptierten, fühlte sie sich „ungefähr einen Monat lang ganz normal, bis ich mich eines Tages an einem wirklich dunklen, hoffnungslosen Ort wiederfand. Ich war komplett überfordert. Da stand ich nun, mit einem wundervollen Baby—dem Kind, von dem ich immer geträumt hatte—und fühlte mich nicht in der Lage, seine Bedürfnisse zu erfüllen—von ganz banalen Sachen wie sein Hungerschreien von seinem Windelwechselschreien zu unterscheiden bis hin zu ganz tiefgreifenden Fragen wie: Was weiß ich als weiße Frau über den Rassismus, mit dem mein asiatischer Sohn konfrontiert werden wird? Ich konnte auch nicht gut schlafen, wie viele frischgebackene Eltern."

Nazarov sagt, dass sie nach einigen Wochen, in denen sie unter „fehlendem Appetit, Schlaflosigkeit, vielen Tränen und der obsessiven Angst, mit dem Baby in den Armen die Treppe runterzufallen", litt, erkannte, dass sie depressiv war. Zeit, Medikamente und eine wundervolle Therapeutin, die selbst Adoptivmutter ist, haben ihr geholfen, ihre Depressionen in den Griff zu bekommen. Genau wie Greene hatte auch sie noch nie zuvor von Depressionen nach der Adoption gehört und erfuhr erst davon, als sie auf das Buch The Post-Adoption Blues: Overcoming the Unforeseen Challenges of Adoption von Dr. Karen J. Foli stieß. Mit einem Mal hatten ihre Gefühle einen Namen. „Es war so eine Erleichterung", meint sie.

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Was weiß ich als weiße Frau über den Rassismus, mit dem mein asiatischer Sohn konfrontiert werden wird?

Dr. Foli gilt als Expertin auf dem Gebiet von Depressionen, die infolge einer Adoption auftreten und arbeitet als Dozentin an der US-amerikanischen Purdue University in Indiana. Sie und ihr Mann haben selbst zwei leibliche Kinder und eine Adoptivtochter. Sie sagt, dass sie in der Zeit nach der Adoption selbst mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Diese Erfahrung und die Erkenntnis, dass es nur sehr wenige Informationen über Depressionen bei Adoptiveltern gab, waren für sie und ihren Mann Dr. John R. Thompson der Anlass, ihr Buch zu schreiben. Dr. Foli hat bereits eine Langzeitstudie zu Depressionen nach der Adoption durchgeführt und hat die Theorie, dass die Erwartungen, die Eltern an die Zeit nach einer Adoption haben, und die Kluft zwischen Erwartungen und Realität letztendlich zu Stress und Depressionen führen.

„Adoptiveltern haben häufig die starke Erwartung, ‚die besten Eltern der Welt' sein zu müssen, was weder realistisch noch erfüllbar ist", sagt sie. „Aus diesem Grund fällt es ihnen auch oft schwer zuzugeben, dass sie Schwierigkeiten haben. Mehrere Elternpaare haben erzählt, dass sie sich wie ‚Monster' gefühlt haben, wenn sie deprimiert waren, weil sie so lange darauf gewartet hatten, endlich Eltern zu werden und sie lange Zeit kein anderes Lebensziel mehr hatten. Das führte wiederum dazu, dass sie zutiefst verunsichert waren, weil sie nicht wussten, warum sie sich so fühlten."

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Neben den unrealistischen Erwartungen an das Elternsein, sagt Dr. Foli, ist es oft auch so, dass Adoptiveltern weniger Unterstützung von ihrem Umfeld bekommen. „Das liegt meist daran, dass die Mutter die Schwangerschafts- und Geburtserfahrung nicht gemacht hat und Freunde, Familie oder der Bekanntenkreis nicht erkennen, ob die Adoptiveltern Hilfe benötigen."

Greene ist Autorin und schreibt über ihre Erfahrungen mit Depressionen nach der Adoption in ihrem Buch No Biking in the House Without a Helmet. Was damals hilfreich gewesen wäre, sagt sie, „ist das Wissen, dass eine solche Reaktion nicht unüblich ist. Insbesondere, wenn man ein älteres Kind adoptiert, das nicht das erste Kind in der Familie ist. Das habe ich allerdings erst später erfahren." Greene rät Frauen, die nach der Adoption unter Depressionen leiden, den Kontakt zu anderen Betroffenen zu suchen. „Nur weil man nach der Adoption unter Depressionen leidet, heißt das nicht, dass man einen schrecklichen Fehler gemacht und alles ruiniert hat. Vielleicht bist du auch einfach nur erschöpft."

Ihre Erfahrungen haben sie aber ganz offensichtlich nicht abgeschreckt, denn sie und ihr Mann haben später noch vier weitere Kinder adoptiert. Mittlerweile haben sie neun Kinder im Alter von 19 bis 34 Jahren, die—wie Greene sagt—alle „ein sehr, sehr enges und liebesvolles Verhältnis zueinander haben."

Ein Screening von Müttern auf Depressionen wurde in Deutschland bisher immer nur für Hochrisikogruppen verlangt. In den USA wurde dagegen gefordert, Mütter während und nach der Schwangerschaft generell auf Depressionen hin zu untersuchen. Dr. Folis Empfehlung nach sollten allerdings auch Adoptiveltern vor und nach der Adoption eines Kindes untersucht werden. „Ich möchte betonen, dass die ganze Familie von einem Screening und der Behandlung von depressiven Symptomen bei Eltern profitiert. Es gibt eine starke Evidenz, die nahelegt, dass es negative Folgen für Kinder haben kann, wenn ein Elternteil unter Depressionen leidet—egal ob es sich dabei um die leiblichen Eltern oder die Adoptiveltern handelt. Von einem konsequenten Screening würden also alle profitieren, sowohl die Eltern als auch die Kinder. Außerdem könnten Ärzte bereits sehr viel früher und aufmerksamer reagieren."

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Nazarov wäre ebenfalls froh gewesen, wenn man ihr gesagt hätte, dass es komplett normal ist, wenn man als frisch gebackene Adoptivmutter traurig und frustriert ist oder sich allein gelassen fühlt, wenn der langwierige Adoptionsprozess erst einmal hinter einem liegt. „Ich dachte nur: ‚Zum Glück ist es vorbei!' Die echte Arbeit—und das echte Glück und die Zufriedenheit—des Elternseins fing aber gerade erst an."

Sie glaubt, dass noch viel getan werden muss, um das Bewusstsein für Depressionen nach der Adoption zu schärfen. „Viele Adoptiveltern trifft es wie ein Schlag. Zum Wohl ihres Kindes—das kein Mitspracherecht hatte und zumindest ein oder mehrere gesunde, ganze Elternteile verdient, die sich seiner annehmen—müssen wir bereit sein, uns einzugestehen, dass wir Hilfe brauchen. Frag nach Hilfe: beim Kochen, bei der Kinderbetreuung oder bitte andere einfach nur um ein offenes Ohr. Man muss sich immer vor Augen halten, dass von frischgebackenen leiblichen Eltern auch nicht erwartet wird, dass sie ‚alles allein hinkriegen' und genauso wenig, erwartet man so etwas von dir."