Politik

Wir haben mit dem vielleicht einzigen Feministen in der CDU gesprochen

Jesse Jeng, 32, will nicht für den Bundestag kandidieren, weil zu wenige Frauen zur Auswahl stehen.
Jesse Jeng, ein junger Mann, steht vor einem Gebäude in Hannover, für mehr Frauen verzichtet er auf die Bundestagswahl
Foto: Jesse Jeng

Jesse Jeng, 32, hat gerade die Chance seines Lebens vertan. Man kennt Jesse nicht. Er ist CDU-Lokalpolitiker in Hannover, nachgerückt in den Stadtrat und sitzt im Gleichstellungsausschuss und engagiert sich für ein queeres Jugendzentrum. Dass man ihn nicht kennt, wird sich in den nächsten fünf Jahren auch nicht ändern, denn Jesse hat gerade auf einen Karrieresprung verzichtet: einen Sitz im Bundestag.

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Jesse sagt: Für die Gleichberechtigung. Obwohl er sich mit jahrelangem politischem Aktivismus eine Basis aufgebaut hat, obwohl Parteikollegen ihn dazu ermuntert hatten, kandidiert er in seinem Wahlkreis Hannover 2 nicht bei den nächsten Bundestagswahlen.

Die CDU-Mitglieder haben stattdessen jetzt nur noch die Wahl zwischen vier Frauen, die sich bei der Bundestagswahl um ein Direktmandat bewerben möchten. In den restlichen Wahlkreisen der Stadt stellt die CDU nur Männer auf.

Auf Twitter schreibt Jesse, man könne nicht verkünden, mehr Frauen im Parlament zu unterstützen, um dann beizutragen, dass in der Region Hannover vier Männer für die CDU kandidieren. Ist das Show oder ernst gemeint? Funktioniert so Feminismus? Und ist Jesse vielleicht der einzige Feminist in der CDU?


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VICE: Jesse, warum hast du das gemacht?
Jesse Jeng: Wenn nie jemand verzichtet, wenn nie jemand einen Schritt zurücktritt, dann wird sich nichts ändern. Es wird oft so getan, als wäre die Frauenförderung eine Win-Win-Situation. Das ist doch Blödsinn: Entweder Männer entscheiden sich dazu, einen Schritt zurückzutreten und vielleicht was anderes zu machen, oder es wird sich nie was ändern.

Denkst du schon immer so?
Bevor ich in die CDU eingetreten bin, war Ursula von der Leyen meine Mentorin in einem Talentförderprogramm. Sie ist damals vehement für eine Frauenquote eingetreten und hat mich nach meiner Meinung gefragt. Ich sag ganz offen: Ich hab mich gefragt, warum es das braucht, ich bin nicht als Heiliger geboren worden. Sie hat mir dann erklärt, wie schwer es Frauen auch strukturell haben. Dass sie zum Beispiel konsequent schlechter beurteilt werden im Beruf. Als sie sich aus dem Wahlkreis zurückgezogen hat, war die Frage: Wer wird Nachfolger? Ich bin gut vernetzt, engagiere mich vor Ort und wurde gefragt. Es kristallisierte sich aber heraus, dass wenn ich mich durchsetze, in den vier Wahlkreisen in Hannover keine Frauen antreten werden. Da wurde es zur Gewissensfrage. Ich bin jetzt auch selbst Mentor in einem Frauenförderprogramm und helfe meiner Mentee, in ein lokales Parlament zu kommen.

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Es wäre komisch, wenn die mir in die Timeline ein dickes Dankeschön reinschreiben.

Was halten denn deine männlichen Parteikollegen von der Entscheidung?

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Ich hatte das vorher mit niemandem besprochen, daher waren viele davon ausgegangen, dass ich antrete. Von Schock über Unglaube bis Lob war dann alles dabei. Manche haben sich gar nicht gemeldet. Das Coolste war, dass Peter Tauber mich retweetet hat und geschrieben hat: “Ehrenmann”.

Und die Frauen?
Haben absolut unterstützend reagiert. Einige haben mir geschrieben: Danke, dass das endlich mal jemand tut. Was mich getroffen hat: Aus dem Wahlkreis haben einige – Frauen und Männer – geschrieben: Das kann nicht dein Ernst sein, es geht doch um uns, wir wollen doch den besten Vertreter, den wir uns vorstellen können. Ich stehe aber zu meinen Prinzipien. Und die haben mir nicht erlaubt zu kandidieren.

Ob ich mich durchgesetzt hätte, weiß ich natürlich nicht.

Die anderen Kandidatinnen aus deinem Wahlkreis – haben die sich auch bedankt?
Die haben auf jeden Fall alle den Beitrag gelikt. Es wäre komisch, wenn die mir in die Timeline ein dickes Dankeschön reinschreiben. Das müssen sie auch gar nicht.

Es bewerben sich im Wahlkreis Hannover 2 vier CDU-Kandidatinnen mit viel politischer Erfahrung, manche waren schon Landespolitikerinnen. Du bist in den Stadtrat nachgerückt und am Landtagsmandat gescheitert. Außerdem hält derzeit die SPD das Direktmandat. Hättest du überhaupt eine Chance gehabt? 
Alle Prognosen deuten derzeit auf die CDU, deswegen interessieren sich ja so viele für den Wahlkreis. Weil ich Ortsvorsitzender bin, habe ich viel Unterstützung vor Ort. Ob ich mich durchgesetzt hätte, weiß ich natürlich nicht. Klar entscheiden die Mitglieder auch danach, wen sie am besten kennen.

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Auf dem Parteitag Ende Dezember wird deine Partei über eine 50-Prozent-Frauenquote für Vorstandspositionen ab der Kreisebene abstimmen. Du stimmst dafür?
Also ich bin auf jeden Fall dafür, dass wir in irgendeiner Weise eine Frauenquote beschließen. Wie die ausgestaltet ist, müssen wir mal sehen. Es wird derzeit noch an weiteren Ideen gearbeitet und ich glaube, der Vorschlag muss noch ergänzt werden durch Maßnahmen an der Basis. Mein Punkt ist aber: Wenn Männer nicht verzichten, wird sich nichts ändern.

Dann sind Frauen am Ende doch von der Gnade netter Männer abhängig?

Na ja, das wäre ja schon wieder eine gute Ausrede für andere, nicht das zu tun, was ich getan hab. Im Ernst: Ich würde sagen, am Ende des Tages brauchen wir eine Mischung aus vielem: Wir brauchen eine Frauenquote, Männer müssen verzichten und wir brauchen Frauen, die die gläserne Decke selbst durchstoßen. So wie Ursula von der Leyen.

Ich trete nicht als Heiliger an, ich bin Ehrenamtler und versuche, einen Beitrag zu leisten.

Du bist auch Bezirksvorsitzender der Jungen Union Hannover, da zähle ich im Vorstand 20 Männer und vier Frauen.
Wir sind nicht da, wo wir sein müssten, aber im nächsten Bezirksvorstand werden mehr Frauen dabei sein. Wir versuchen, die Plätze, die frei werden, mit Frauen zu besetzen.

Deine drei Stellvertreter sind alle Männer. Müssten da nicht zwei zurücktreten?
Im nächsten Vorstand wird schon mal eine Stellvertreterposition mit einer Frau besetzt. Ich trete aber auch nicht als Heiliger an, ich bin Ehrenamtler und versuche, einen Beitrag zu leisten.

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Was machst du jetzt statt des Bundestagswahlkampfs?
Ich engagiere mich weiter ehrenamtlich und setze mich in meinem Job für den Kinderschutz ein. Ich falle nicht in ein tiefes Loch, aber ich bin schon wehmütig. Falls nochmal eine Gelegenheit kommt, muss ich mir das ansehen, aber es kann auch sein, dass nie wieder eine kommt. Das ist dann halt so.

Bereust du schon?
Nein, das ist das falsche Wort. Aber ich hätte mich in Berlin gut für die Dinge einsetzen können, die mir wichtig sind: gegen Rassismus zum Beispiel. Aber ich glaube, egal was für ein toller Hecht ich gewesen wäre, ich hätte nicht ausgleichen können, dass keine einzige Frau in der Region in den Bundestag gezogen wäre.

Man fragt sich da halt, ob du in der richtigen Partei bist.
Die CDU ist kein monolithischer Block. Ich habe, als ich eingetreten bin,

genau gesehen, was ich gut finde und was nicht. Ich wusste, dass ich in eine Partei eintreten muss, deren Grundwerte ich vertrete und die was zu sagen hat und zwar dauerhaft. Ganz ehrlich: Natürlich kann ich mit meinen Rassismusthemen zu einer Partei gehen, die es genauso sieht, oder noch extremer. Aber ich glaube, ich verändere als Schwarzer in der CDU eher was, wenn ich mich da durchsetze.

Bist du Feminist?
Das fänd ich anmaßend. Das wäre, wie wenn jemand sagt: Ich bin Schwarz in der Seele.

Ich habe ja nicht gefragt, ob du eine Frau bist.
OK, aber ich würde mich nicht so nennen. Du siehst ja, dass ich in der Tat – und nicht nur bei Twitter – einen Beitrag leiste zur Veränderung der Strukturen. Aber ich finde, das ist zu einfach, das wäre ein "Virtue Signal" und reicht nicht. Beim Thema Rassismus ist es ja ähnlich. Viele sagen, sie seien keine Rassisten und hätten so viele Schwarze Freunde. Ich will, dass, wenn mal im Unternehmen eine Beförderung ansteht, ein Weißer sagt: Nee, das wird jetzt die Schwarze Frau. Dann ist man Feminist – und Antirassist.

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