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Das ist keiner der drei, sondern der Männer-Influencer Andrew Tate. Foto: VICE Media
Politik

Online unter Frauenhassern: Drei Männer erzählen, wie sie den Absprung schafften

"Mir wurde plötzlich klar, dass ich die ganze Zeit auf Clowns gehört hatte." – Vincent

Früh aufstehen, Zähne putzen, Sport machen, auf sich selbst achten, sein Glück nicht von anderen abhängig machen und selbstbewusst durch die Welt gehen. Das sind alles gute Ratschläge, aber in sogenannten Red-Pill-Foren kommt mit ihnen eine Menge Hass – auf Frauen, Minderheiten und Menschen verschiedener Gender. 

Falls du zu den Glücklichen gehörst, die es bis jetzt geschafft haben, noch nie was vom Red-Pill-Begriff zu hören: In rechten Internetforen steht er für Menschen, die die vermeintliche Wahrheit sehen, die Gesellschaft durchschauen. Geklaut haben sie ihn aus dem Film Die Matrix. Hauptfigur Neo steht dort vor der Wahl. Nimmt er die blaue Pille, lebt er weiter in einer bequemen Scheinwelt. Nimmt er die rote Pille, sieht er die Wahrheit, muss sein bisheriges Leben aber aufgeben. Ironischerweise outeten sich die Regisseurinnen Lilly und Lana Wachowski – früher als Wachowski-Brüder bekannt – später als transgender und sagten, die rote Pille stehe für ein Leben jenseits der Zweigeschlechtlichkeit.

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In den frühen 2010er Jahren hatten rechte Online-Communitys begonnen, die Pillen-Metapher für ihre Ideologie zu vereinnahmen. Das wahre Wesen ihrer Welt besteht allerdings darin, dass gesellschaftliche Hierarchien natürlich und damit gerechtfertigt seien. Außerdem seien – Überraschung! – weiße Cis-Heteromänner dazu gemacht, die Welt zu beherrschen. Wenn jemand die rote Pille nimmt, verlagern sich nach dieser Logik seine politischen Ansichten automatisch nach rechts.

Seinen Peak hatte der Begriff zwischen 2015 und 2016 im Dunstkreis von Donald Trumps erster Präsidentschaftskandidatur, aber er hat uns seitdem nicht mehr verlassen. Bis heute wird er von Elon Musk, Andrew Tate und anderen einflussreichen selbsternannten Alpha-Männchen und Frauenfeinden verwendet.

Leider sind Jugendliche und junge Männer besonders anfällig für reaktionäre und einfache Weltbilder. Sie geben ihnen einen Sinn und Sicherheit in einer Phase, in der sie selbst zutiefst verunsichert sind. Wir haben mit drei Männern gesprochen, die tief in dieses Loch gefallen sind, es aber wieder rausgeschafft haben. Hier sind ihre Geschichten. Alle drei haben uns darum gebeten, anonym zu bleiben.

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"Viele junge Typen stehen lieber auf der Seite der starken Männer mit den Bugattis, als mit linken Veganern assoziiert zu werden"

"Ich wuchs als Arbeiterkind auf. Mit 16 stieß ich auf die rechte Seite des Internets: YouTube-Videos von Leuten wie Ben Shapiro oder Steven Crowder. Typen, die behaupten, ihre Inhalte auf 'Fakten und Logik' zu begründen. Diese Leute sind sehr gut darin, Statistiken zu manipulieren, und man kauft ihnen schnell alles ab, was sie sagen. 

Ein Beispiel dafür ist die sogenannte 13/52-Theorie. Nach dieser machen Afro-Amerikaner 13 Prozent der US-Bevölkerung aus, aber 52 Prozent aller Gefängnisinsassen. Das ist nicht nur falsch, sondern berücksichtigt auch nicht die sozioökonomische Situation vieler Schwarzer in den USA oder den systematischen Rassismus der Polizei. [Anm. d. Red.: 52 bezieht sich in der Theorie in der Regel auf den Anteil der für Mord verhafteten, aber noch nicht verurteilten Menschen in der US-Bevölkerung, das macht sie aber keineswegs aussagekräftiger.]

Mein Vater stammt von den Antillen, wodurch ich irgendwie das Bedürfnis hatte, zu beweisen, dass ich 'einer von den Guten' bin. Ich schleppte einen Haufen Schuldgefühle und Unsicherheiten mit mir rum. Wegen meiner dunklen Haut fühlte ich mich wie ein schlechter Mensch. Außerdem hatte ich keinen Kontakt zu meinem Vater. Das ließ viel Raum für Gefühle wie Enttäuschung und Hass.

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"Rückblickend war Einsamkeit wahrscheinlich ein großer Faktor für mein Verhalten."

Ich stieg immer weiter hinab in Incel-Foren wie 4chan, wo ständig sexistische und rassistische Witze gemacht werden. In dem Alter fühlte sich das richtig edgy an. In diesen Foren werden auch offen rassistische Theorien geteilt und angepriesen. Dir wird buchstäblich beigebracht, dass Schwarze den 'freien Westen' niederbringen wollen.

Mit 18 begann ich dann langsam, anders zu denken. Es ist schon witzig, wie mich das Internet zu diesen Ideen hingeführt hatte, aber auch wieder davon weg. Wenn du 'dreckige muslimische Terroristen' hasst, aber siehst, dass Weiße Nationalisten auch Anschläge oder Amokläufe begehen, beginnst du, dein eigenes Denken zu hinterfragen. YouTube-Videos von Second Thought oder Hunter Avallone haben mir dabei sehr geholfen. Avallone hatte früher selbst rechtsextreme Ansichten und begann schließlich, linke Videos zu machen.

Rückblickend war Einsamkeit wahrscheinlich ein großer Faktor für mein Verhalten. Ich wollte Teil von etwas sein, selbst wenn es die dunkle Seite des Internets war. Ich beobachte, dass viele junge Typen lieber auf der Seite der starken Männer mit den Bugattis stehen, als mit linken Veganern assoziiert zu werden. Das ist allerdings ein gefährliches Feld, wenn man sich darin verliert." – Nigel, 23, Werkstudent

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"Ich wuchs in einem konservativen Umfeld auf, ohne es jemals infrage zu stellen. Ich war also bereits von frauenfeindlichen Vorstellungen umgeben"

"Mit 16 verhielt ich mich schrecklich gegenüber Frauen. Ich beschimpfte Mädchen dafür, dass sie Sex hatten: 'Du würdest auch jeden ficken, nicht?' Slutshaming fand ich damals nicht nur normal, ich dachte sogar wirklich, dass ich ihnen damit einen Gefallen tun würde. Ich war auch überzeugt davon, dass der Feminismus zu weit gegangen war, dass die Frauen übertreiben würden. Ich wollte sie nicht ernst nehmen. In meinen Augen waren sie nämlich nicht so schlau wie Männer.

In meinem letzten Schuljahr hatte ich eine Mitschülerin, die sehr gut in Mathe war. Ich sah es als meine Pflicht, immer ein Gegenargument zu finden, wenn sie etwas sagte. In meinen Augen war sie eine Männerhasserin. Sie brachte immer Frauen in jedes Thema ein, das meiner Meinung nach vor allem Männer betraf. In diesen Diskussionen war ich immer unfassbar herablassend und tat so, als wäre sie dumm. In Wahrheit verstand sie alles besser als ich, ich war einfach ein Arschloch.

In der Männerrechtsgruppe von Reddit fühlte ich mich zu Hause. Dort sehen sich alle vom Feminismus bedroht. Das war auch die Zeit von Gamergate, einer frauenfeindlichen Hetzkampagne gegen Feminismus und Diversität in der Gamingbranche. Die Bloggerin und Gamerin Anita Sarkeesian wurde damals zum Hauptziel der Bewegung und in Hunderten Kommentaren und Posts lächerlich gemacht. Ich fand das fair, weil Gamer sind Männer und der freie Markt bringt die besten Spiele hervor. Ich war auch der Meinung, dass die Spiele Beziehungen zwischen Männern und Frauen objektiv darstellten und Frauen nicht fähig waren, diese objektive Welt zu verstehen. Die konservativen Vorstellungen, mit denen ich aufgewachsen war, wurden von meiner Internetbubble nur verstärkt.

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"In meiner damaligen Vorstellung waren Frauen und Schwule fast eine andere Sorte Mensch."

Mit 18 bekam ich erste Zweifel. Ich wechselte zur Uni und lernte schwule Männer kennen. Außerdem begann ich, mich eingehender mit Frauen zu unterhalten, und stellte fest, dass sie trotz meiner Vorurteile durchdachte Meinungen hatten. Es klingt vielleicht bescheuert, aber in meiner damaligen Vorstellung waren Frauen und Schwule fast eine andere Sorte Mensch.

Bücher und YouTube-Kanäle wie Contrapoints haben mir geholfen, aus dem rechten Loch rauszufinden. Bis dahin hatte ich mich nur mit konservativen Denkern auseinandergesetzt, aber als ich Simone de Beauvoir las, fing ich an, mehr über Sexismus und Rassismus in unserer Gesellschaft nachzudenken. Inzwischen habe ich meine Perspektive komplett geändert. Ich würde mich heute als aktiven Sozialisten mit feministischen Ansichten bezeichnen.

Bis ich 20 war, hatte ich nie guten Sex gehabt. Ich dachte immer, dass es an meinen Partnerinnen liegen würde. Als ich dann aber anfing, Frauen als menschliche Wesen und nicht als Objekte zu sehen, führte das schnell zu schönen Erfahrungen und romantischen Beziehungen.

Heute sind Leute wie Andrew Tate unter Jugendlichen unglaublich populär und es ist sehr traurig, das mitanzusehen. Wäre ich heute 16, wäre ich wahrscheinlich einer von ihnen. Diese jungen Tate-Fans sind aber auch nur das Symptom eines größeren Problems in unserer Gesellschaft." – Leon, 26, Ingenieur 

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"Frauen werden zu einem Puzzle, das es zu lösen gilt, wenn du mit ihnen im Bett landen willst. Sie sind nicht länger Menschen mit Gefühlen und Träumen"

"Ich wuchs als Kind einer Bildungsbürgerfamilie in einem Reihenhaus in der Stadt auf. Meine Radikalisierung begann, als ich etwa 18 war – und zwar an zwei Fronten:

Einerseits begann ich, YouTube-Videos zu schauen, in denen aggressive Frauen komplett unsinnige Sachen schrien. So nach dem Motto: 'Guckt mal, wie durchgeknallt diese Feministinnen und Social Justice Warrior sind.' Dadurch landete ich dann in der sogenannten Alt-Right-Pipeline, also bei Videos von YouTubern, die mit kurzen und vereinfachenden Antworten auf schreiende Feministinnen reagieren.

Das Bild, das in diesen Videos transportiert wird, ist simpel: Linke sind komplett verrückt, emotionsgesteuert und schreien die bescheuertsten Sachen und bezeichnen alle Andersdenkenden als Rassisten. Die Rechten zerpflücken dann vermeintlich rational und leichtfertig die Argumente der Linken.

Die andere Front war die Seite Hiddenlol, auf der ich viel Zeit verbrachte. Das war eine edgy Meme-Seite, die es nicht mehr gibt. Während der Flüchtlingskrise 2015 wurden dort viele Memes über syrische Geflüchtete gepostet. Wenn man tagtäglich Bilder von Migranten mit Schlagwörtern wie 'Invasion' sieht und dazu den Nachrichten folgt, kriegt man früher oder später das Gefühl, dass da eine riesige Plage auf einen zukommt.

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Für den misogynen Teil habe ich mich eigentlich weniger interessiert, aber in Red-Pill-Kreisen ist alles miteinander verbunden. Ich wurde damals mit Theorien bombardiert, dass nur eine kleine Gruppe Männer alle Frauen abkriegt und für den Rest nichts übrigbleibt. Irgendwann denkt man selbst: 'Werde ich noch eine abbekommen?' Frauen werden zu einer Art seltenem und begehrten Produkt. Sie werden zu einem Puzzle, das es zu lösen gilt, wenn du mit ihnen im Bett landen willst. Sie sind nicht länger Menschen mit Gefühlen und Träumen.

"Ich verstand, dass mir die ganze Furcht und der Hass nichts bringen."

Wie ich es da wieder herausgeschafft habe? Ich verlor einfach einen Teil meiner Selbstzweifel. An der Uni lernte ich viel Neues und 2017 begann meine erste Beziehung. Ich bin immer noch mit ihr zusammen. Als sie meine Freundin wurde, verschwand das ganze 'weniger Frauen für mich'-Problem.

Gleichzeitig stieß ich auf linke YouTuber wie Three Arrows, die sorgfältig die rechten Theorien zerlegten. Die Videos zeigen, dass diese Alt-Right-Typen nicht mal die von ihnen zitierten Studien vernünftig lesen. Mir wurde plötzlich klar, dass ich die ganze Zeit auf Clowns gehört hatte. Der Film American History X hat mir ebenfalls die Augen geöffnet. Ich verstand, dass mir die ganze Furcht und der Hass nichts bringen. Langsam, aber sicher driftete ich immer weiter nach links und verstand, wie kaputt der Kapitalismus ist. 

Filme und Influencer haben mir also wirklich geholfen, aber das Wichtigste für mich war die Liebe der Menschen um mich herum – die Art von Liebe, die einem Selbstbewusstsein schenkt. Das ist nämlich das Perfide an diesen Alt-Right-Communitys: Sie tun alles dafür, damit du dich verunsichert und isoliert fühlst." – Vincent, 26, Student

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