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„Bei Grausamkeit steht mir der Schwanz!“ ... nicht.

Wir waren bei ‚Die 120 Tage von Sodom' im Berliner Theater, wo der Roman eines der größten sadistischen Literaten uraufgeführt. Wir waren not amused.

Ein Kreuz, daran ein Jüngling festgenagelt, ihm wird der Penis herausgeholt, in Scheiben geschnitten und als Hostie verteilt: „Im Namen der Lust, im Namen der Macht, im Namen des Geldes, der Aktien, des Öls, des Monopols auf Waffen." Noch sitzen alle auf ihren Plätzen, das Stück ist wenige Minuten alt. Einige Zeit später wird der Bischof auf einer zwei Meter hohen Vorrichtung auf die Bühne gerollt, wo er minutenlang kackt. Unter ihm sind Schüsseln zum Auffangen, gleich bekommen die Kinder zu essen. Spätestens jetzt ist für einige im Saal das Limit erreicht.

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Gespielt wird Die 120 Tage von Sodom. Geschrieben in einer Gefängniszelle vor über 200 Jahren vom Marquis de Sade, jetzt von Johann Kresnik für das Theater adaptiert. Es ist Mittwoch, Uraufführung, Volksbühne, Berlin. Im Kreis werden Ärsche geleckt, die Melange aus Blut, Kotze und Kot dient als zähe Masse zum Wälzen und falls Bilder nicht reichen sollten, wird mit Worten nachgeholfen: „Lasset die Kinderlein zu mir kommen. Na los! Ausziehen! Sonst werdet ihr gleich alle erschossen! (…) Ehe ich mich vergewaltigen lasse, messe ich immer die Schwanzlänge meiner Knaben ab. Je länger, je lieber! Ich schlucke alles." Wieder stehen einige Zuschauer auf, was zu erwarten war, denn als Vorlage dient Kresnik ein Werk, dessen Autor namensgebend für den ,Sadismus' war.

Mit Die 120 Tage von Sodom lieferte de Sade ein umfangreiches Kaleidoskop menschlicher Perversionen ab. Ob Inzest, Sodomie, Nekrophilie oder Pädophilie: Nichts wurde ausgelassen, alles bis ins kleinste Detail in allen Variationen beschrieben. Hierzu entwirft er vier Hauptfiguren, die sogenannten Libertins. In 120 Tagen veranstalten sie sadistische Orgien mit ihren 42 Opfern, am Ende überleben nur 16 Personen. De Sade selbst wurde gleich mehrere Male der Prozess gemacht. Von Misshandlungen und Auspeitschungen ist die Rede, zwei Prostituierte soll er mit Cantharidin-Bonbons zu Gruppensex und Analverkehr gefügig gemacht haben. Es hagelte Todesurteile, etwa ein Drittel seines Lebens verbrachte er hinter Gittern—seine Schriften haben ebenfalls Anteil an seiner Misere.

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Foto: imago/Drama-Berlin.de

Doch eben weil de Sade so unnachgiebig in seiner Radikalität war, mit der er die menschlichen Abgründe zeichnete und so den Sittenwächtern ein Bild des Menschen präsentierte, das sie am liebsten vergessen machen wollten, gilt er vielen als einer der bedeutendsten Aufklärer. Selbst feministische Größen wie Simone de Beauvoir oder Susan Sontag wussten den Marquis anzuführen, wenn es um die Kritik patriarchaler Strukturen ging. Andere dagegen sehen in ihm einen Sadisten, der mittels Literatur das auslebte, wozu ihm der Mut im wahren Leben fehlte.

Doch weit interessanter als die Frage nach dem Motiv für seine Werke ist die nach der Funktion. Die bloße Schilderung derart obszöner Praktiken wirkte wie Sprengstoff auf die damalige Gesellschaft, aber heute—wo wir mit allen Abwässern gewaschen sind—bedarf es weit mehr als der bloßen Darstellung menschlicher Grausamkeiten. Hierzu musste Kresnik den alten Stoff in eine neue Form bringen, nur leider wählte er dafür die alte Kapitalismus-Kritik, was nicht einmal zwingend zu einem Problem werden müsste, wenn er seine Figuren nicht so schrecklich platt gestaltet hätte. Die vier Libertins sind bei Kresnik ein Politiker, ein Richter, ein Bänker und Bischof—gemeinsam verkünden sie die altbekannte Litanei von der angeblich „neuen, verborgenen Form des Terrors: der Konsumgesellschaft." Dabei wird kein Klischee ausgelassen, so dass die Monologe klingen, als wären sie von einem Deutsch-Leistungskurs der Oberstufe geschrieben: „Großartig seid ihr, so haben wir euch erzogen. Keine Bildung, nur Konsum. Nichts im Hirn außer Geld, Fressen, Vögeln, Facebook." „Eine Schafherde auf dem Weg zum Schlachter. Wunderbar. Ihr glaubt alles, was die Banken und die Politik euch vorbeten." „Wir haben die Nazis und Kommunisten aufeinander gehetzt zum Wohle unserer Bank. Meiner Bank, ja! Na los komm her, ich stecke dir mein Messer in dein Loch."

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Die dargestellte Brutalität auf der Bühne wäre nicht das Problem, wenn es darüber hinaus noch mehr gäbe. So aber nutzt sie sich ab, und in dem Maße, wie immer mehr Kunstblut vergossen wird, hallen zunehmend die weisen Worte, die Moritz Bleibtreu an Oliver Pocher einst richtete:

Was mit Die 120 Tage von Sodom unter Kresnik passiert, ist ein Rückschritt hinter de Sade. Die Provokation als legitimes Stilmittel verkommt zur bloßen Vulgarität und die schockt einfach nicht mehr. So ließe sich auch erklären, warum die meisten Leute im Saal sitzenbleiben konnten, als die Hauptfiguren zum Grande Finale ausholten: Eine junge Frau wurde an einer Vorrichtung fixiert, um ihr im Anschluss das Ungeborene aus dem Leib herauszuschneiden, dann mit einem Beil zu zerteilen, die Stücke auf einen Grill zu werfen und im Anschuss zu essen. Nicht einmal der Geruch von verbranntem Fleisch machte dem Publikum etwas zu schaffen. „Also ich finde Frühgeburten sind am köstlichsten."

Es scheint auch, also ob Herr Kresnik mit seiner Konsumkritik es vor allem auf uns „Facebook-Generation" abgesehen hätte—auf uns, die wir im „Internet unsere Sachen auf Tauschbörsen tauschen":

Glaubt nicht, dass ihr einzigartig seid. Ihr habt gedacht, ihr seid klüger als eure Mütter und eure Väter. Aber ihr seid noch blöder als eure Vorfahren. Euch kann man einfach alles zum Frass vorsetzen.

Nein Herr Kresnik, da irren Sie sich—das kann man nicht. Die Menschen sind kniffeliger als in ihrer Vision. Die trägen Kids machen sich auf, die Weltmeere zu säubern und selbst die Bösen beugen sich nicht Ihrer Vorstellungskraft. Die reichsten Hedgefondsmanager entdecken ein soziales Bewusstsein und spenden Vermögen, vermeintlich oberflächliche Schönheitsgöttinen der Kulturindustrie nutzen ihren Einfluss, um für Flüchtlinge vor dem UN-Sicherheitsrat zu sprechen. Das sind keine Ausnahmen, die Ihre Regel bestätigen, da braut sich etwas zusammen.

Foto: imago/Drama-Berlin.de

Wie heißt es in Fight Club so schön: „Durch die Werbung sind wir heiß auf Klamotten und Autos. Machen Jobs, die wir hassen, kaufen dann Scheiße, die wir nicht brauchen. Wir sind die Zweitgeborenen der Geschichte. Männer und Frauen ohne Zweck, ohne Ziel. Wir haben keinen großen Krieg, keine große Depression. Unser großer Krieg ist ein spiritueller. Unsere große Depression ist unser Leben." Herr Kresnik, Sie und Tyler Durden verkennen, dass Konsum nicht zwingend böse sein muss. Ja, es gibt ihn in seiner dumm-pervertierten Fratze. Aber neben dem blinden Verbrauch von Cola und Cheeseburgern konsumiert unsere Generation Musik, Film, Theater, Bücher, also Kultur. Indem wir konsumieren, entwickeln wir einen Geschmack. Der Mensch ist nicht nur Konsument, er ist auch ein Konsument—im besten Falle ein kritischer. Und wenn Ihre Figuren uns fragen: „Wieso werden eure Schwänze nicht größer? Wieso eure Fotzen nicht feuchter?", dann liegt das daran, dass uns Ihr Frass geschmacklos erscheint. Ja, wir sind vielleicht eine abgefuckte Generation, aber es gehört schon ein wenig mehr dazu als bloße Vulgarismen, um unsere Lenden in Bewegung zu setzen. Etwas Esprit oder Humor darf es dann schon sein.

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