Berlin früher heute
Yannick wurde in der Charité geboren und ist in Neukölln und Kreuzberg aufgewachsen. Alle neuen Fotos: Shirin Siebert | alle alten Fotos: privat
Menschen

Fotos aus Berlin: So haben die Stadt und ihre Bewohner sich verändert

"Eine Schrippe kostet nicht mehr 8 Cent. Und der Bäcker, der die seit 1968 verkaufte, ist auch nicht mehr da", sagt Tsellot, 23.

Die einzige Konstante ist Veränderung. Nur scheint es, als würden sich die Dinge immer und immer schneller verändern. In Berlin geboren und aufgewachsen zu sein, das heißt, dass man mit eigenen Augen gesehen hat, wie sich die Metropole in den vergangenen Jahren gemausert hat – zum Guten wie zum Schlechten. Dieses Fotoprojekt ist ein Hommage an die Stadt, die wir lieben, und an Orte, an die wir uns gut erinnern, aber die vielleicht nicht mehr so aussehen, wie wir sie einmal kannten.

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Wir haben mit Langzeit-Berlinern und -Berlinerinnen ein Foto aus ihrer Kindheit und Jugend nachgestellt und sie gefragt, wie sie sich das Berlin der Zukunft vorstellen.

Ingo, 45, geboren in Schöneberg, aufgewachsen in Steglitz, lebt jetzt in Kreuzberg

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"Weg mit irgendwelchen Glas-Stahl-Bürobauten, hin zu mehr Holz, mehr Grün, mehr anders."

VICE: Was war für dich die größte Veränderung, die du in Berlin miterlebt hast? ?
Ingo: Der Mauerfall. Die ganze Stadt hat sich dadurch verändert. Alleine da zu stehen, wo wir jetzt stehen, war vorher nicht möglich. Wir sind hier mitten im ehemaligen Osten. Vor dem Mauerfall war die Stadt geteilt, zwei Systeme standen sich gegenüber, man hat in West-Berlin immer "in Angst vor dem Osten" oder vor dem nuklearen Tod gelebt. Wir waren hier auf einer Insel, wir waren weder richtig Teil der Bundesrepublik noch richtig irgendwas anderes. Für uns war es so: Wir waren Berliner, und dann gab’s die Wessis und die Ossis, aber wir waren immer etwas anderes.

Als die Mauer weg war, löste sich dieses Gefühl mit auf. Was folgte, war Anarchie. Und die Techno-Szene ist hochgepoppt. Da war der ganze Osten noch wie der Wilde Westen. Es herrschte wirklich eine Zeit lang Anarchie in der Stadt, weil die vorher zuständige Polizei auf einmal nicht mehr zuständig war. Es gab ja das alte System nicht mehr. Bevor sich die neue West-Polizei ihre neuen Strukturen im Osten aufgebaut hatte, kam eine Zeit, in der alles ging. Man ging irgendwo in ein Haus, das geil aussah, dachte sich "Lass mal 'nen Club machen" und betrieb den dann ein paar Monate, bis irgendjemand kam und meinte: "Das Haus gehört aber uns." Dann ging man zwei Meter weiter ins nächste Haus und tat genau das gleiche.

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Das war die größte Veränderung der Stadt und überhaupt im Zeitgeist, da hat sich alles nochmal auf Links gedreht.

Was meinst du, wie sieht das Berlin der Zukunft aus?
Autofrei. Das wäre meine Utopie, ist aber vielleicht gar nicht mal so unrealistisch. Wir werden hoffentlich nicht so etwas wie New York oder London, wo es in der Innenstadt nicht mehr möglich ist zu leben, wenn man kein astronomisches Gehalt hat. Wir werden auf jeden Fall immer internationaler werden, das ist Fakt. Ich hoffe nur nicht so durchgentrifiziert. Ich träume wie gesagt von einer etwas ökologischeren Stadt, bestenfalls kriegen wir die Autos raus, mehr Grün an den Straßen, mehr öffentlicher Nahverkehr. Weg mit irgendwelchen Glas-Stahl-Bürobauten, hin zu mehr Holz, mehr Grün, mehr anders. Dass wir uns wieder ein bisschen die Anarchie, die wir damals hatten, zurückholen.

Die große Gefahr, die Berlin droht, in Zeiten wo immer mehr Geld herkommt, ist, dass all dieses "Anarchische", was es damals gab, hier aus der Stadt verloren geht. Und das macht Berlin ja auch eigentlich aus, deshalb kommen die Leute her, weil sie wissen: Hier kannst du sein, wer du willst, wie du willst, und machen, was du willst. Das funktioniert halt nicht, wenn nur noch Geld die Stadt regiert und es keine Freiräume und keinen günstigen Wohnraum mehr gibt. Nur Glastürme in der Innenstadt und extrem teuer, das wäre meine Horrorvision von Berlin.

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Tsellot, 23, geboren und aufgewachsen in Schöneberg

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"Was auch kommen mag, Berlin bleibt mein Zuhause. Für immer Berliner Göre."

VICE: Was war für dich die größte Veränderung, die du in Berlin miterlebt hast?
Tsellot: Eine Schrippe kostet nicht mehr 8 Cent. Und der Bäcker, der die seit 1968 verkaufte, ist auch nicht mehr da. Ersetzt durch einen überteuerten "Laptop friendly"-Schuppen, der Energy Balls, Acai Bowls und Avocado-Schnitten anbietet, so wie der Laden zwanzig Meter weiter auch. Die Gentrifizierung in Berlin ist nicht zu übersehen.

Natürlich kann ich nicht verlangen, dass alles günstig und gleich bleibt, nur hört der Spaß auf, wenn die eigenen Eltern gezwungen sind, nach 25 Jahren ihre Wohnung und den Kiez aufzugeben, weil sich ihre Miete verdoppelt hat. Glückwunsch an dieser Stelle an das frisch verheiratete Makler-Pärchen aus München, das die Wohnung gekauft hat.

Eine Schrippe kostet nicht mehr 8 Cent. Und der Bäcker, der die seit 1968 verkauft, ist auch nicht mehr da.

Was meinst du, wie sieht das Berlin der Zukunft aus?
Mein Berlin ist assi und dreckig – das liebe ich. Das Berlin der Zukunft sieht brav und sauber aus –das passt mir gar nicht.

Ich habe das Gefühl, dass sich Berlin immer mehr zu einem eintönigen Hotspot der Reichen und der Superlative entwickelt, wo es für mich keinen Platz geben wird. Das ist meine Befürchtung. Meine Hoffnung ist aber, dass Berlin seinen Charme behält und weiterhin ein Ort bleibt, wo jeder sich frei entfalten und ausleben kann. Was auch kommen mag, Berlin bleibt mein Zuhause. Für immer Berliner Göre.

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Yannick, 21, in der Charité geboren, in Neukölln und Kreuzberg aufgewachsen

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"Einige Stadtteile und Straßen sind nicht mehr wiederzuerkennen", sagt Yannick. Diese Ecke aber hat sich kaum verändert.

VICE: Was war für dich die größte Veränderung, die du in Berlin miterlebt hast?
Yannick: Die größte Veränderung scheint mir zu sein, dass die Stadt für eine neue Zielgruppe ausgelegt wird und dadurch einige Stadtteile und Straßen nicht mehr wiederzuerkennen sind. Sie haben ihren alten Flair verloren.

Was meinst du, wie sieht das Berlin der Zukunft aus?
Ich kann mir Berlin in der Zukunft kaum vorstellen. Es wird immer teurer und die Bauten immer moderner, aber im Endeffekt bringt es die Stadt als ganzes nicht weiter. Was eventuell passiert, ist, dass sich ein neues Stadtzentrum bildet und es dann ein Berlin gibt, das dem altem Muster folgt, und eine Neustadt, die der Zukunft angepasst wird.

Fatih, 43, 1997 mit 21 Jahren nach Berlin gezogen

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"Das urbane Leben, das, was 'Multikulti' bedeutet hat, ist bald nicht mehr zu finden."

VICE: Was war für dich die größte Veränderung, die du in Berlin miterlebt hast?
Fatih: Die ganze Gentrifizierung, die die letzten zwei Jahrzehnte hier stattgefunden hat. Besonders in dieser Geschwindigkeit, die jetzt zu fühlen ist. Zuerst war es doch ein sehr schleichender Modus, aber in den letzten zehn Jahren ging es immer schneller – zumindest in meiner Wahrnehmung.

Was meinst du, wie das Berlin der Zukunft aussieht?
Ich glaube, dass diese Stadt dasselbe erleben wird wie andere Metropolen weltweit auch – leider. Und zwar wird sie hauptsächlich von Unternehmern und Selbstständigen mit gutem finanziellen Background und deren Kindern bewohnt werden und das wird leider die Durchmischung, die wir einst hier hatten, komplett verändern. Die heutige Vielfalt wird vielleicht bleiben, aber dafür nur noch aus einer sozialen Schicht kommen, und zwar aus der Upper Class. Das ist eine Entwicklung, die ich nicht besonders gut finde. Berlin wird wegen eben dieser Vielfalt überall angepriesen, aber sie wurde hier zerstört. Das urbane Leben, das, was "Multikulti" bedeutet hat, ist bald nicht mehr zu finden. Und das macht die Stadt weniger schön und spannend.

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Ling, 20, aufgewachsen in Schöneberg, zog erst nach Moabit und dann ins Westend

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"Der alte Spielplatz ist weg, sie haben neue Gebäude gebaut."

VICE: Was war für dich die größte Veränderung, die du in Berlin miterlebt hast?
Ling: Die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, hat sich komplett verändert. Der alte Spielplatz ist weg, sie haben neue Gebäude gebaut. Berlin ist so eine Baustelle geworden! Und ich habe das Gefühl, dass die sozialen Spannungen wieder zunehmen.

Was meinst du, wie sieht das Berlin der Zukunft aus?
Ich hoffe noch offener und noch toleranter und solidarischer. Ich wünsche mir, dass die Menschen zueinander stehen und einander helfen, statt gegeneinander zu arbeiten.

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