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Drogen

Sucht ist das wohl beschissenste Erbe, das es gibt

"Abhängige fallen nicht aus dem Stammbaum, aber weit vom Stamm landen sie auch nicht."
Lia Kantrowitz
illustriert von Lia Kantrowitz

Vor 29 Jahren habe ich etwas von meinem Vater geerbt, das mich seither jeden Tag begleitet. Ich habe ihn gut 10 Jahre lang nicht mehr gesehen, aber in bestimmten Situationen ist er ganz nah. Wenn ich in den ersten, freudigen Zügen eines Rauschs bin zum Beispiel, oder wenn ich nach einem anstrengenden Tag direkt in die Bar renne.

Mein Dad hatte einen brillanten Geist und einen unendlichen Wissensdurst. Er war außerdem Alkoholiker und abhängig von einer ganzen Liste an Drogen, die ihn letztendlich seine Karriere und den Kontakt mit uns kosteten – und ihn für 10 Jahre ins Gefängnis brachten. Meine ganze Jugend über musste ich zusehen, wie er zu einem Wrack verkam. Ich werde mein gesamtes restliches Leben damit zubringen, dafür zu sorgen, dass der Teufelskreis mit mir endet.

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Es gibt kein "Sucht-Gen", so einfach ist das alles nicht. Aber jahrelange Nachforschungen zeigen, dass die Kinder von Abhängigen ebenfalls suchtgefährdet sind. Dafür verantwortlich ist ein ganzes Netz aus Genen und genetischen Variationen, die beeinflussen, wie wir auf Drogen reagieren, wie schnell wir süchtig werden und wie schnell wir Rückfälle erleiden. Bei Abhängigen spielen Erbgut und Umweltfaktoren zusammen, oft greifen die auch ineinander.

"Etwa die Hälfte des Suchtrisikos kommt von den Genen, die andere Hälfte wird von der Umwelt bestimmt", erklärt Edward Nunes, Professor für Psychiatrie an der Drogensuchtabteilung der Columbia University. "Vor einfachen Erklärungen muss man sich in Acht nehmen", warnt er. "Drogenabhängigkeit ist eine sehr komplexe Art der Krankheit, die neben den Genen auch davon bestimmt wird, in welcher Umgebung jemand aufgewachsen ist. Auch die aktuelle Umgebung spielt eine Rolle, zum Beispiel im Bezug auf Stress."

"Wenn Mäuse eine konditionierte Vorliebe für eine Droge zeigen, sind Menschen allgemein auf dieselbe Art empfindlich."

Seit Jahrzehnten untersuchen Forscher, welchen Einfluss Abhängigkeit auf die Kinder der Betroffenen hat. Erst letzte Woche gab es eine wichtige neue Erkenntnis: Camron Bryant und sein Team am Boston University Medical Center haben Defekte eines Gens erforscht, das die Empfindlichkeit auf Opioide beeinflusst. Das Gen heißt CSNK1E (weil es das Enzym "Casein kinase 1 isoform epsilon" kodiert). Die Forscher stellten fest, dass Mäuse mit einem deaktivierten CSNK1E-Gen stärker auf Opioide reagierten und für das Belohnungsgefühl dieser Droge empfänglicher waren. Natürlich ist das noch kein Menschenversuch, aber Bryant betont, dass man in der Drogenforschung mit Mäusen meist eine recht gute Vorhersage für Menschen machen könne. "Wenn Mäuse eine konditionierte Vorliebe für eine Droge zeigen, sind Menschen allgemein auf dieselbe Art empfindlich", sagt er. "Ich denke, aus unserer Studie ergeben sich wichtige Erkenntnisse für die zunehmende Forschung an Menschen. Sie legt nahe, dass Variationen in diesem Gen die Empfänglichkeit für die euphorisch und süchtig machenden Eigenschaften der Opioide erhöhen."

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Vor wenigen Jahren fand dasselbe Team einen ähnlichen genetischen Zusammenhang im Bezug auf Metamphetamine. Bryant erklärt, das Gen könnte neben einer Empfindlichkeit für die Wirkung und das Suchtpotential einer Droge auch die Toleranzentwicklung beeinflussen. Außerdem könne es vielleicht auch eine Auswirkung auf Entzugssymptome haben.


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Menschen wie ich sind also besonders empfindlich für die Drogen, die unsere Angehörigen zerstört haben. Das verdammt uns nicht automatisch zum selben Schicksal, aber unser Verhältnis zu Drogen wird dadurch sicherlich nicht einfacher. Die Pillen, die mein Vater genommen hat, werde ich niemals anrühren, aber Alkohol gibt mir eben doch vieles. Die meiste Zeit empfinde ich Trinken genau wie meine Freunde: Es macht Spaß, es macht soziale Situationen oft einfacher, es kann in schweren Zeiten eine Krücke sein. Ich liebe es, dass ich mit ein paar Drinks meine Ängste mildern kann, lustiger und lockerer werde.

Meistens. Wenn ich den ersten Schwips spüre und ganz euphorisch nachschenke, oder wenn ich eigentlich schon genug hatte und trotzdem mehr bestelle, das sind die Momente, in denen ich an mein erbliches Risiko denken muss.

Manche Kinder von Süchtigen machen selbst immer wieder Pausen, um nicht die Kontrolle zu verlieren.

Zwar ist Sucht je nach Substanz zu unterschiedlichen Graden erblich, aber Bryant erklärt: "Alle Abhängigkeiten haben mindestens eine erbliche Komponente." Gleichzeitig könnten Umweltfaktoren wie Missbrauch und andere Traumata einen ebenso großen Einfluss haben.

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Dr. Harold Jonas, Suchttherapeut und Gründer von Sober.com, stimmt zu: "In meiner Erfahrung kommt dieser Hexenkessel aus Umweltfaktoren eher zum Tragen, sobald es in der Familie bereits Abhängigkeit gibt." Zu den Faktoren zählen laut Jonas neben den Genen zum Beispiel Familienwerte und die Risikobereitschaft der jeweiligen Person. "So entstehen Süchtige. Sie fallen nicht aus dem Stammbaum, aber weit vom Stamm landen sie auch nicht." Dabei fließt nicht nur das vorbelastete Blut in unseren Adern, sondern wir sehen das Verhalten des süchtigen Verwandten ja oft unser ganzes Leben lang mit an. Wer in einem chaotischen, schwierigen Umfeld aufwächst, kriegt schneller Durst.

Für mich und viele andere Betroffene kann das bedeuten, dass wir ständig aufpassen und unseren Kurs korrigieren müssen. Manche machen immer wieder Pausen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. "Einmal oder zweimal im Jahr höre ich komplett mit dem Trinken auf, um sicherzugehen, dass ich das überhaupt noch kann", sagt mir eine Freundin, deren Mutter langjährige Alkoholikerin ist. "Ich achte sehr genau auf meinen Konsum, weil ich panische Angst habe, zu enden wie sie."

Andere lassen die Finger gleich komplett von dem für sie gefährlichsten Stoff. "Für mich war die Entscheidung, keinen Alkohol zu trinken, wie eine Garantie, dass ich mich von ihnen lösen kann", erzählt ein Freund, dessen Eltern beide alkoholabhängig sind.

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Ich hätte viel lieber ein paar stilvolle Antiquitäten, Ländereien oder einen Treuhandfonds geerbt.

Menschen wie ich, die trotzdem von der verbotenen Frucht naschen, spielen mit dem Feuer. "Eine Person Mitte 20, die Angehörige mit Alkoholismus und/oder anderen Abhängigkeiten hat, sollte extrem gut nach körperlichen und geistigen Suchtsymptomen Ausschau halten, wenn sie sich dafür entscheidet, trotzdem gelegentlich zu trinken", sagt der Psychiatrieprofessor Nunes.

Er würde eine erblich belastete Person aber trotzdem genauso behandeln wie alle anderen: "Ich würde fragen, wie viel sie trinken, und nach Mustern regelmäßigen Drogenkonsums schauen. Wenn sie das Rauschgefühl wirklich sehr genießen, würde ich das als Warnzeichen werten." Sehr wichtig sei ihm dabei auch, den Patienten klarzumachen, dass sie nicht allein schuld sind. "Drogenabhängigkeit ist stark stigmatisiert, gleichzeitig leiden Betroffene an Schuldgefühlen und geringem Selbstbewusstsein", sagt er. "Man muss ihnen helfen zu begreifen, dass es sich um eine richtige Krankheit handelt und nicht einfach nur ihre Schuld ist. Stattdessen sollten sie sich darauf konzentrieren, wie sie gesünder werden können."

Ich hätte sehr viel lieber ein paar stilvolle Antiquitäten, Ländereien oder einen Treuhandfonds bekommen. Stattdessen empfinde ich die Wirkung von Drogen intensiver als andere und habe eine eingebaute Abkürzung nach Alkoholiker City. Die Gesellschaft stellt Sucht als Schwäche dar, die Forschung als Schicksal. Ein beschissenes und zerbrechliches Erbe, das ich meinem Vater trotzdem nicht übelnehmen kann.

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