Schmerz, Diskriminierung, Isolation: Was LGBTQ-Häftlinge hinter Gittern malen
'Life Without a Net' by Larry S.

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Schmerz, Diskriminierung, Isolation: Was LGBTQ-Häftlinge hinter Gittern malen

Im Rahmen einer neuen Ausstellung versuchen queere Gefängnisinsassen in den USA sich ihre Menschlichkeit zurückzuerobern und den Menschen zu zeigen, wie die Gesellschaft ohne Gefängnisse aussehen könnte.

Das Projekt On the Inside zeigt die Arbeit von Menschen, die Kunst—und ihr immenses Talent dafür—erst hinter Gittern entdeckt haben. Die Künstler, die in der Ausstellung gezeigt werden, sind aktuell in den USA inhaftiert und damit Teil eines Strafvollzugssystems, das mehr Menschen in den Knast bringt als jedes andere auf der Welt. Darüber hinaus identifizieren sie sich als LGBTQ und fordern uns—durch imaginäre Selbstporträts, detaillierte Studien von Rihannas oder Michael Jacksons Gesicht und gezeichneten Visionen von Jesus—dazu auf, sie nicht nur als Gefangene, sondern auch als Menschen zu sehen. Seit dem 4. November 2016 sind die Werke im Abrons Art Center in New York zu sehen.

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Tatiana von Fürstenberg, die Tochter der Designerin Diane von Fürstenberg, hat die Kunstwerke der Gefangenen für die Ausstellung zusammengetragen. Sie engagiert sich für Black & Pink—eine Organisation, die die Abschaffung von Gefängnissen fordert und mit ihrem Newsletter mehr als 11.000 LGBTQ-Mitglieder erreicht, die aktuell im Gefängnis sitzen. Eigentlich war sie zunächst nur auf der Suche nach einem Brieffreund, doch schon bald wurde aus ihren Briefwechseln mit den Menschen im Gefängnis ein gigantisches Projekt. Sie schaltete eine Anzeige im Newsletter von Black & Pink und bat die Leser, ihre künstlerischen Arbeiten einzureichen. Nach vier Jahren hatte sie über 4.000 verschiedene Brieffreunde in insgesamt 183 Gefängnissen. Die Gefangenen, deren Einsendung in die Ausstellung aufgenommen wurde, erhielten jeweils eine Spende von umgerechnet rund 46 Euro.

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Foto: Angela Pham/BFA

„Die Ausstellung zeigt keine gewöhnliche Gefängniskunst", sagt eine Frau namens Jennifer bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Ausstellungseröffnung. Sie hat ihre Arbeiten eingeschickt, bevor sie aus dem texanischen Gefängnis entlassen wurde. Während ihrer Zeit im Gefängnis hat Jennifer Glücksbärchi-Karten für die Kinder der anderen Insassen gemalt, um etwas zum Tauschen zu haben. Kunst im Gefängnis, sagt sie, ist eine heimliche Währung und viele Leute entdecken ihr Talent aus der Not heraus. „Im Gefängnis ist man als Künstler schon fast dazu gezwungen so etwas zu machen, weil es das ist, was die Leute haben wollen."

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Viele der Arbeiten stammen von Transgender-Frauen, die aktuell in Männergefängnissen inhaftiert sind. Laut Black & Pink werden fast 100 Prozent aller Transgender-Frauen, die noch keine geschlechtsangleichende Operation hatten, Opfer derartiger diskriminierender Gewalt durch das System, obwohl es eigentlich gegen das Gesetz verstößt. In ihren sinnlichen Portraits haben die Frauen die Möglichkeit, sich selbst außerhalb der Bekleidungs- und Darstellungsbeschränkungen zu zeigen, die ihnen in den amerikanischen Gefängnissen aufgezwungen werden.

Foto: Christopher Watkins

Mitten im Hauptausstellungsraum der Galerie steht eine kleine Kiste von der Größe einer Zelle in Einzelhaft. Dort werden explizitere und detailliere Zeichnungen ausgestellt. Außerdem werden auch Zeichnungen von Menschenrechtsaktivisten und Helden der Bürgerrechtsbewegung gezeigt, die zugleich auch als Selbstportraits dienen, um die Stärke und die Widerstandskraft der Künstler dazustellen. Unabhängig vom Genre wurden sämtliche Kunstwerke mit Materialien angefertigt, die im Gefängnis erhältlich sind—Kool-Aid, Kugelschreiberminen, Inhalatoren, die zu Airbrush-Maschinen umfunktioniert wurden, Bleistiften, Deos—oder irgendwo gestohlen wurden, wo der Zutritt für Insassen eigentlich verboten ist. Neben jedem Bild hängt eine Nummer, über die man eine Nachricht an den jeweiligen Künstler richten kann, um ihn wissen zu lassen, dass man sein Werk gesehen hat. (Die Nachrichten werden anschließend ausgedruckt und als Brief geschickt. Das ist der einzige Weg, wie man den Menschen im Gefängnis Nachrichten zukommen lassen kann.)

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Janetta Johnson ist eine Transgender-Frau und selbst eine ehemalige Gefängnisinsassin. Mittlerweile ist sie als Direktorin von TGI Justice tätig. Im Rahmen der Podiumsdiskussion sagt sie, dass sie die Kunstwerke an ihre Gespräche mit Mitgliedern der LGBTQ-Community im Gefängnis erinnerten. Sie erzählt, dass sie mit den Insassen über ihre zukünftigen Hoffnungen und Träume gesprochen und sie gefragt hat, was sie sich vom Leben wünschen. Sie wollte dadurch „besser verstehen, welche Systeme uns im Gefängnis halten." Dabei wurde ihr klar, dass viele Leute hinter Gittern landen, weil sie versuchen, „grundlegende Bedürfnisse nach etwas zu essen oder einem Dach über dem Kopf zu stillen."

Foto: Christopher Watkins

Nachdem sie sich die Ausstellung zum ersten Mal angesehen hat, sagt sie: „Mein erster Gedanke war: Was würde passieren, wenn wir uns als Gesellschaft beziehungsweise als Menschen um andere Menschen kümmern würden, noch bevor sie ins Gefängnis kommen? Es wäre schön, wenn wir auf Leute zugehen würden und sie fragen würden: ‚Was brauchst du, um dich so entwickeln zu können, dass du nicht kriminell werden musst, um zu überleben? Was brauchst du, um als Künstler oder sonst was erfolgreich zu sein?'"

Tatsächlich sind in den USA überdurchschnittlich viele LGBTQ-Personen obdachlos und arbeitslos. Das macht sie besonders anfällig dafür, Opfer von Polizeischikane und Festnahmen zu werden. Wenn sie festgenommen werden, werden LGBTQ-Personen meist mit den Ungerechtigkeiten des amerikanischen Strafverfolgungssystems konfrontiert und im Gefängnis werden sie alarmierend oft Opfer von Missbrauch oder sexueller Gewalt.

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Jason Lydon, Direktor und Gründer von Black & Pink, betont, dass die Kunstwerke, die in der Ausstellung gezeigt werden, nicht nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit sind. „Die Menschen sind in der Lage etwas zu erschaffen, obwohl sie schreckliche Gewalt erfahren, obwohl ihr Verstand durch die Einzelhaft zerstört wird. Die Leute erschaffen etwas, während sie gefoltert werden", sagt er. „Sie erschaffen etwas, um uns von sich zu erzählen, um uns zu sagen, was wir—die hier draußen sind—tun können, um sicherzustellen, dass uns diese Kunst nicht nur solidarisch sein lässt, sondern auch zum Handeln bewegt. Ihre Kreativität sollte nicht hinter Mauern oder in Ausstellungen verbannt werden. Sie sollte frei sein. Sie sollte wieder Teil unserer Gesellschaft werden."

Foto: Christopher Watkins

In anderen Worten: Die Ausstellung soll uns hier draußen dazu aufrufen, darüber nachzudenken, wie wir mit den Menschen umgehen, die dabei erwischt werden, wie sie das Gesetz brechen und wir sollten auch darüber nachdenken, dass diese Menschen überdurchschnittlich oft farbig sind oder der LGBTQ-Community angehören. Eine Woche nach der Eröffnung—sowie einige Tage, nachdem Donald Trump Herr über das Masseninhaftierungssystem der USA geworden ist—habe ich mit Lydon telefoniert, um darüber zu sprechen, wie eine Zukunft ohne Gefängnisse aussehen würde und darüber, welchen Einfluss Trump auf die verwundbarsten Mitglieder der amerikanischen Gesellschaft haben wird.

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Broadly: Bei der Ausstellungseröffnung war ich ein wenig überrascht, dass sich keine der Arbeiten mit der Wahl beschäftigt hat. Ich weiß noch, dass du mir gesagt hast, dass sich die Gefangenen, mit denen du in Kontakt stehst, kaum für die Wahl interessieren, weil sich keiner der Kandidaten dafür eingesetzt hat, ihre Lebensumstände zu verbessern. Nun da wir der Wirklichkeit ins Auge sehen müssen, dass Trump Präsident werden wird, habe ich mich gefragt, ob er eine Gefahr für die Gefängnisinsassen und die Menschen, die in Gegenden mit einer hohen Polizeipräsenz leben, darstellen könnte.
Jason Lydon: Trump wird mit Sicherheit einen ernstzunehmenden Einfluss auf das Federal Bureau of Prisons haben—das System, über das die meisten Menschen in den USA inhaftiert werden. Der Generalstaatsanwalt, der von Trump ernannt wird, wird entscheiden, wer Direktor des Federal Bureau of Prisons wird. Es wird gesagt, dass Rudy Giuliani im Gespräch sein soll. Ich hätte Bedenken wegen Giulianis schrecklicher Überwachungspolitik in New York City. Er ist bekannt für seine Polizeistrategie nach der Broken-Windows-Theorie und seine verstärkte Überwachung von schwarzen und farbigen Gemeinden. Ich hätte Angst, dass er einen Direktor ernennen würde, der diese Strategie sowie die Vorurteile und die Gewalt gegen Gefängnisinsassen fortsetzt.

Es ist wichtig, dass wir uns alle immer wieder vor Augen halten, dass wir alle Kriminelle sind.

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Ich habe einen Brief von einem Insassen bekommen, der Bedenken wegen Mike Pence hatte und fragte, ob seine Unterstützung der Konversionstherapie möglicherweise auch die Menschen im Strafvollzug treffen könnte. Die Leute machen sich Sorgen, dass queere Menschen im Strafvollzug durch solche Folterprogramme—und genau das sind sie—gezwungen werden könnten, ihre eigene Identität zu leugnen. Wegen der Kontrolle, die [Trump] über die Verwaltung der staatlichen Gefängnisse haben wird, haben die Leute momentan schon Angst. Wenn das föderale System noch schlimmer wird, als es bereits ist, könnte das auch Auswirkungen auf andere staatliche Behörden haben. Eine wichtige Rolle spielt hierbei auch, dass die Polizeikräfte Donald Trump befürworten. In vielen dieser Polizeiverbände sind auch Gefängniswärter Mitglied. Gefängniswärter sind Teil dieser Kultur von weißem Rassismus und der Hetze gegen die LGBTQ-Community, was durch die Präsidentschaft Trumps unterstützt wird.

Foto: Angela Pham/BFA

Auf der Webseite von Black & Pink heißt es: „Durch den Aufbau einer Bewegung, die gegen das Gefängnissystem aktiv wird, erschaffen wir die Welt, von der wir träumen." Kannst du erklären, inwiefern der Abbau des Gefängnisindustriekomplexes wichtig für den Kampf um Gleichberechtigung ist?
Der Gefängnisindustriekomplex stellt den Gipfel der Unterdrückung dar und macht deutlich, wie sich die unterschiedlichen Aspekte dieses unterdrückenden System auf unsere Gesellschaft auswirken. Es geht dabei um das Fadenkreuz, durch das schwarze und farbige Menschen in diesem weißen, rassistischen Überwachungssystem ins Visier genommen werden, das Aufrunden undokumentierter Einwanderunsgzahlen, die Demontage armer Gemeinden und die zunehmende Überwachung an solchen Orten. All das führt zu weiteren Inhaftierungen.

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In unserem aktuellen System werden die „Schäden" unserer Gesellschaft einfach in Käfige gesteckt. In der Abschaffung dieses System sehen wir die Möglichkeit zur Veränderung. Die Abschaffung des System ist nicht nur destruktiv, sondern auch kreativ. Es geht darum, neue zuständige Systeme zu schaffen. Wenn Menschen anderen Menschen Leid zufügen, sollten wir sie für ihr Handeln zur Rechenschaft ziehen, gleichzeitig aber auch ihre Menschlichkeit anerkennen. Es hätte aber auch zur Folge, dass wir innerhalb der Gemeinden Einsatzteams bilden und Geld und Zeit in ihre Ausbildung stecken müssten, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Was die weißen Rassisten betrifft, die von Trump unterstützt werden, hat die Abschaffung des Systems auch zur Folge, dass wir einander beibringen müssen, uns selbst zu schützen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Polizei unsere Gemeinden schützen wird. Wir müssen unsere Gemeinden selbst schützen können—nicht nur vor weißen Rassisten, sondern auch vor rassistischen weißen Polizisten. Das bedeutet auch, dass wir einen Weg finden müssen, um uns zur Wehr zu setzen.

So schlimm die Präsidentschaft von Trump auch für die LGBTQ-Community und insbesondere für schwarze und farbige Menschen sein mag, die Leute leben seit Generationen unter den Folgen der weißen Vorherrschaft. Gleichzeitig wehren sie sich aber auch seit Generationen und werden auch immer weiter kämpfen, bis sie wirklich frei sind. Darum geht es bei der Abschaffung des Systems.

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Du meintest, dass die Ausstellung zum Handeln aufrufen soll. Was kann jeder einzelne von uns tun, um sich dafür einzusetzen, dass das Leben der Menschen im Gefängnis verbessert wird?
Zuallererst sollte sich jeder einen Brieffreund suchen. Den Kontakt unter den Gefangenen und zwischen Gefangenen und der Außenwelt herzustellen, ist unser Hauptanliegen. Auf unserer Webseite kann man durch die Namen und Biografien von tausenden von Gefangenen scrollen, die alle jemanden suchen, dem sie schreiben können. Man kann sich auch lokalen Kampagnen anschließen oder spenden—zum Beispiel Organisationen, die von ehemaligen Insassen geleitet werden oder Organisationen, die Gefängnisinsassen in ihrer Führung haben. So kann man sichergehen, dass das Geld auch wirklich an Leute geht, die sich dafür einsetzen, dass die Rechte der Gefangenen gestärkt werden.

Die wahre Veränderung wird allerdings von zwei Seiten kommen, denke ich. Ein wichtige Rolle spielen dabei die Gefangenen selbst. Am 9. September gab es einen der größten Gefangenenstreiks in den USA. Sie haben Forderungen gestellt und dadurch erreicht, dass sich ihre Arbeitsbedingungen und Bezahlung verbessert. Das sollten wir auch in Zukunft unterstützen. Ihnen drohen ernsthafte Konsequenzen, aber sie können wirklich etwas bewirken. Außerdem sind die Rechtsverfahren außerhalb des Gefängnisses wichtig. Wir müssen Anwälte unterstützen, die die Fälle von Insassen übernehmen.

Das Kernthema von On the inside ist Sichtbarkeit. Die meisten Menschen denken nicht über den Alltag von Gefangenen nach und was noch schlimmer ist: Die meisten Menschen vergessen, dass Gefangene die gleichen Rechte auf eine menschenwürdige Behandlung haben wie alle anderen auch. Anfang November wurde in Colorado darüber abgestimmt, ob der Abschnitt in der bundesstaatlichen Verfassung beibehalten werden soll, der die Versklavung von Gefängnisinsassen verbietet. Die Entscheidung war nur ganz knapp für den Erhalt des Abschnitts. Das hat mich ziemlich schockiert. Die Leute dachten anscheinend, dass es Ok ist, wenn Kriminelle zu Sklaven gemacht werden. Wie kann man eine solche Denkweise ändern?
Es ist wichtig, dass wir uns alle immer wieder vor Augen halten, dass wir alle Kriminelle sind. Wir brechen andauernd das Gesetz. Der einzige Unterschied zwischen den Leuten außerhalb des Gefängnisses und denen im Gefängnis ist, dass die im Gefängnis erwischt wurden, in der Regel weniger Mittel zur Verfügung haben und wir in einem System leben, das sich gegen Schwarze, LGBTQ und Menschen mit Behinderung richtet. Daraus sollte man nicht schließen, dass wir noch mehr Leute inhaftieren sollten. Es soll vielmehr heißen, dass sich die Gefangenen nicht groß von den Leuten unterscheiden, mit denen wir sonst zu tun haben.