Heimliche Rituale und der Spaß am Lügen: mein Leben mit Magersucht
Illustration: Sarah Schmitt

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Heimliche Rituale und der Spaß am Lügen: mein Leben mit Magersucht

Als YouTuber teile ich mein Leben mittlerweile mit Hunderttausenden im Internet. Vor ein paar Jahren noch versetzte mich jedoch selbst ein Strandurlaub in absolute Panik.

Egal, wie viel Zulauf die Body-Positive-Bewegung in den letzten Jahren auch erhalten haben mag: Essstörungen haben, insbesondere unter jungen Frauen, nach wie vor Hochkonjunktur. Unrealistische Körperbilder, unter anderem gefördert durch zur Perfektion gephotoshoppte oder mit Instagramfiltern aufgehübschte Bilder, schüren die Annahme, selbst mit Normalgewicht noch zu dick zu sein. Die Folgen: Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind 1,1 Prozent der Frauen und 0,3 Prozent der Männer in Deutschland magersüchtig. Das österreichische Gesundheitsministerium veröffentlichte im vergangenen Jahr Informationen, nach denen sich die Zahl der Essstörungsbetroffenen in den letzten 20 Jahren verzehnfacht hat. Auch hier waren es größtenteils (90 bis 97 Prozent) junge Frauen.

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Als meine Magersucht ihren Höhepunkt erreichte, war ich 18 Jahre alt.

Mein Name ist Michael Buchinger und ich bin YouTuber. Als sogenannter „Influencer" bin ich für meine Follower ein offenes Buch: Von Instagram-Fotos, auf denen ich verkatert im Bett liege, bis hin zu einem „Follow Me Around" zur Vorbereitung auf meine Darmspiegelung gibt es nur wenige Aspekte meines Alltags, die ich nicht im Internet teile. Ein Teil meines Lebens, den ich jedoch eher selten thematisiere, ist meine einstige Magersucht, über die selbst die meisten meiner Freunde nicht wirklich Bescheid wissen.

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Erst unlängst zum Beispiel lag ich gerade mit meiner guten Freundin Sarah am See und platzierte in einem Moment der freundschaftlichen Zuneigung mein Bein auf ihrem Schoß, als sie vor Schmerzen aufschrie. „Puh, dein Bein ist schwer!", jaulte sie und gab ein gequältes Geräusch von sich, als hätte ich ihr gerade brühend heiße Suppe auf ihre Vagina gegossen. Augenblicklich fühlte ich mich sehr verletzt und spielte mit dem Gedanken, meine Kumpanin im See zu ertränken.

Klar: Da ich mit ihr nie darüber gesprochen hatte, hatte Sarah nicht wissen können, dass jegliche negative Kommentare über meine Beine ob meiner einstigen Magersucht triggernd auf mich wirkten; dennoch machte ich mir eine mentale Notiz, sie für die nächsten zwei Wochen nur noch passiv-aggressiv zu behandeln—und versank in Gedanken an den Sommer vor fünf Jahren, in dem ich besonders unzufrieden mit meinem Körper gewesen war.

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Ich sah mich im Alter von 18 Jahren also dazu gezwungen, ein bisschen „strenger" mit mir selbst zu sein. Und das ist (natürlich) eine maßlose Untertreibung.

Ich war 18 und hasste meine Beine. Um ehrlich zu sein, war ich generell nicht wirklich begeistert von meinem Körper, aber es waren meine Beine, die mir ein besonderer Graus waren. Diese Problemzonen fielen nicht nur mir auf: In den Jahren zuvor wurde mir von besonders rücksichtslosen Mitmenschen oftmals zu Verstehen gegeben, dass mein Körpertyp alles andere als OK war.

Da gab es zum Beispiel die Freunde meiner Eltern, die mich auf einer Dinnerparty mit kritischem Unterton und einen Blick auf meine Beine fragten, ob ich denn eigentlich absolut alles essen dürfe, was ich wolle, oder ob meine Eltern mich manchmal „stoppen" müssten. Stoppen! So als wäre ich ein Serienmörder auf der Flucht und meine Eltern die Kriminalpolizei. „Ja, darf ich eigentlich schon …", antwortete ich kess, während ich langsam ein Mettbrötchen in meinen Mund wandern ließ.

Ein anderes Mal war ein Schulfreund bei mir zu Besuch und hatte seinen kleinen Bruder mitgebracht, der mich, nachdem er mich beim Essen beobachtet hatte, als „fetten Wal" bezeichnete. Mein Freund versuchte, die Situation noch zu retten, indem er etwas Unsinniges sagte wie „Oh, Kinder! Sie brabbeln die verrücktesten Sachen!", aber ich war sichtlich verletzt.

Aussagen wie diese waren definitiv nicht förderlich für mein Körperbild. Ihre Message war klar: Ich war etwas zu dick und das war schlecht. In den Jahren zuvor hatte ich durch gesündere Ernährung und Sport immer wieder versucht, an Gewicht zu verlieren, doch war kläglich gescheitert. Als ungeduldige Person, die schon wütend aus dem Autofenster schreit, wenn Pensionisten zu langsam die Straße kreuzen, sah ich mich im Alter von 18 Jahren also dazu gezwungen, ein bisschen „strenger" mit mir selbst zu sein. Und das ist (natürlich) eine maßlose Untertreibung.

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Ein Video aus der Hochzeit meiner Essstörung

Gewillt, fortan nicht mehr als eine große Mahlzeit am Tag zu mir zu nehmen, musste ich kreativ werden, um dem Adlerauge meiner Mutter zu entkommen. So erklärte ich ihr eines Tages nonchalant, ich wolle von nun an mein Frühstück in meinem Schlafzimmer zu mir nehmen, als wäre ich Hugh Hefner an einem besonders entspannten Morgen in der Playboy-Villa. Da ich für meine merkwürdigen Ideen bekannt war, hinterfragte niemand meine exzentrische Bitte.

Sobald mein Frühstücksbrot auf meinem Schreibtisch gelandet war und meine Mutter das Zimmer verlassen hatte, agierte ich schneller als ein Mörder, der einen Tatort reinigen wollte: In Windeseile deponierte ich sämtliche Kohlehydrate in einer kleinen Box in meinem Schulrucksack, spülte ein Abführmittel mit meinem Kaffee runter und machte mich auf den Weg in die Schule. Dort angekommen händigte ich mein Frühstück jeden Tag einem anderen, jüngeren Kind aus und fühlte mich äußerst wohltätig dabei.

Nach sechs Stunden Unterricht, in denen ich ob meines leeren Magens und dem langsam wirkenden Abführmittel wahrscheinlich wie die titelgebende Leiche in Immer Ärger mit Bernie ausgesehen habe, fuhr ich während meiner Freistunde in Windeseile und unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln zum nächsten Supermarkt und kaufte mir einen kleinen Obstsalat (bestehend aus 200 Gramm Früchten) und einen zuckerfreien Energy Drink.

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Diese Mahlzeit, die jeden Tag exakt gleich sein musste, nahm ich in meinem Auto auf dem Parkplatz des Supermarktes ein—wahrscheinlich mit der gleichen Mischung aus Hektik und Genuss, die Waschbären beim Naschen aus einer Mülltonne an den Tag legen. Manchmal kam es vor, dass alte Leute an mir vorbeigingen und Dinge wie „Oh, sieh an! Dieser Jungspund isst Früchte in seinem Auto! Wie gesund!" sagten. Grinsend winkte ich ihnen entgegen, wie eine dieser Frauen in Werbefotos, die lachend einen Salat essen und in Wahrheit wissen wir alle, dass sie sich innerlich tot fühlen. „Ich kann es kaum erwarten, meinen Mageninhalt zu entleeren!", dachte ich mir lächelnd.

Mehr als der Nahrungsverzicht waren die vielen Lügen, die ich verbreitete, die eigentliche Kunst bei dieser Mission. Nachdem ich am späten Nachmittag aus der Schule nach Hause gekommen war, saß ich meiner Familie beim Abendessen gegenüber und erzählte ungefragt von dem köstlichen Mittagessen, das ich, wie ich behauptete, mit meinen Freunden zu mir genommen hatte. „Zählte das alte Ehepaar vom Supermarktparkplatz als ,meine Freunde'?", fragte ich mich, da ich mich zu diesem Zeitpunkt noch unwohl dabei fühlte, meine Eltern anzulügen. Bestimmt!

Im Anschluss an mein Nachtmahl—der ersten richtigen Mahlzeit des Tages—machte ich es mir stets zur Priorität, zu einer Fitness-DVD namens Kim Kardashian: Fit in Your Jeans By Friday! zu turnen.

Ich fing an an, mehrmals die Woche Fasttage einzulegen und meinem Stoffwechsel mithilfe von Abführmitteln auf die Sprünge zu helfen.

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Rückblickend betrachtet sehe ich ein, dass ein Kim Kardashian-Workout vielleicht nicht die beste Methode war, um an Oberschenkelmasse zu verlieren und es mag daher wohl kaum verwundern, dass—trotz kleiner Veränderungen—von meiner gewünschten Thigh Gap vorerst keine Spur war. In Anbetracht der Neuigkeiten, die mir meine Mutter zu Sommerbeginn offenbaren sollte, war es jedoch an der Zeit für eine weitere drastische Ernährungsumstellung.

„Michael, wir wissen es ist ein bisschen spontan, aber wir haben beschlossen, dass wir in einem Monat alle zusammen auf Strandurlaub nach Spanien fliegen. Sieben Tage lang nur Sonne, Spaß und Strand, Strand, Strand!", lauteten meiner Meinung nach die genauen Worte meiner Mutter, die mich mit aufgerissenen Augen so erwartungsvoll ansah, als wäre sie Oprah, die mir gerade ein brandneues Auto geschenkt hatte.

Jedes normale Kind würde sich vermutlich über die Maßen über solch einen Urlaub freuen. Versteht mich nicht falsch: Auch ich war ganz entzückt, fing jedoch bereits an, mental meine intensivierte Diät-Routine zu planen. Wenn ich mich nicht täuschte, hatte meine Mutter in ihrer Ankündigung das Wort „Strand" ganze vier Mal verwendet und in meinen essgestörten Augen war mein Körper alles andere als beach-ready. So fing ich an, mehrmals die Woche Fasttage einzulegen und meinem Stoffwechsel mithilfe von Abführmitteln auf die Sprünge zu helfen.

Im Nachhinein betrachtet war das Spannende an dieser Phase meines Lebens, dass ich absolut nicht realisierte, wie magersüchtig ich bereits war. In meinen Augen achtete ich einfach nur auf meine Ernährung und konnte spätestens nach dem Urlaub wieder normal essen, wenn ich nur wollte. Gerne sah ich mir Dokumentarfilme über Magersüchtige an, und säuselte Dinge wie „Ist das zu fassen?" und „Solche armen Seelen!", während ich als Abendessen an einer Zigarette zog und mir dann ein Abführmittel gönnte.

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Als ich einen Monat später im Urlaub ankam, fühlte ich mich, als hätte ich einen irrsinnig langen Marathon hinter mir. Ja, ich war durch meine Crash-Diät tatsächlich um einiges schlanker geworden und war annähernd zufrieden mit meinem Körper, fühlte mich aber vollkommen ausgelaugt und war bereit, jeden, der in meiner Gegenwart Kohlehydrate zu sich nahm, zu ermorden. Die wahre Überraschung offenbarte sich mir jedoch erst, als ich mir den Weg zum Strand bahnte.

Wo ich einst eine „Thigh Gap Convention" vermutete, fand ich stattdessen das genaue Gegenteil: Mollige Männer, die Boulevard-Zeitungen lasen und vollschlanke Pensionistinnen in Yoga-Kleidung dominierten den Strand. Ich hatte mir eingeredet, dass ich hungerte, um beach-ready zu werden und in die gesellschaftliche Norm zu passen, doch die Gesellschaft hatte—im Gegensatz zu mir selbst—kein Problem mit mir und meinem Körper.

Der Spanien-Urlaub war ein einziger Reinfall: Ich war ständig wütend, wachte aufgrund meines durcheinandergebrachten Stoffwechsels oft mitten in der Nacht auf, um aufs Klo zu gehen und hatte nicht mal genug Energie, um am Strand in der Konga-Schlange mitzutanzen. Dieser Urlaub markierte den Höhepunkt meiner Magersucht und ich wusste, dass es so nicht weitergehen konnte.

Gerne würde ich behaupten, dass ich in einer Eat Pray Love-artigen Wendung der Geschichte beschloss, das Leben in vollen Zügen zu genießen und sofort wieder anfing, normal zu essen. Doch dem war leider nicht so. Oft schien mir, als hätte ich zwei Persönlichkeiten in mir: Eine, die wollte, dass es mir besser geht und ein andere, die nach wie vor einem unrealistischen Schönheitsideal nacheifern und meine Magersucht der Außenwelt gegenüber leugnen wollte. Obwohl ich beispielsweise nach dem Urlaub bereit war, Hilfe anzunehmen und einwilligte, einen Arzt aufzusuchen, sabotierte ich den Hilfeversuch, indem ich vor der Untersuchung drei Liter Wasser trank, um mehr zu wiegen.

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„Ich sehe nichts abnormales an dir!", sagte der Allgemeinmediziner meines Heimatortes zu mir, als hätte er eine undiagnostizierte Sehschwäche, die er zu verheimlichen versuchte. „Als ich in deinem Alter war, habe ich genau so viel gewogen. Lass dir nichts von den anderen sagen, Michael!", verabschiedete er mich mit einem Schulterklopfen nach gerade mal fünf Minuten aus seiner Praxis. Hmm.

Der einstige Reiz meiner Magersucht war es, meine Mitmenschen anzulügen.

Die Situation sollte erst eine Wende nehmen, als ich aus meinem Elternhaus auszog: Obwohl es mein Plan gewesen war, mein Diät-Regime nach meinem Umzug mehr als je zuvor durchzusetzen, fühlte sich dieser Plan bereits nach der ersten ausgelassenen Mahlzeit nicht richtig an. Der einstige Reiz meiner Magersucht war es, meine Mitmenschen anzulügen. Wenn ich meiner Mutter sagte, dass ich mit Freunden in der Stadt gegessen hatte und sie sich keine Sorgen machen sollte, da es mir „wirklich super!" ging, oder mir von einem Arzt „bestätigen" ließ, dass mein Gewicht normal war, redete ich auch mir selbst ein, dass das stimmte. Doch ohne diese Möglichkeit fiel es mir schwer, mich selbst davon zu überzeugen, dass meine Routine ähnlich harmlos war wie die neueste Brigitte-Diät.

Wo einst meine Oberschenkel meine größte Sorge waren, befürchtete ich nun, dass ich—wenn niemand kontrollierte, dass ich zumindest ab und zu aß—schon bald ein unschönes Ende finden konnte. Meine Magersucht hatte sich schlecht auf meinen Kreislauf ausgewirkt und nicht selten fühlte ich mich kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Es klingt maßlos übertrieben und klischeebeladen, aber ich hatte die Sorge, von den Nachbarshunden gefunden zu werden. Dieser Punkt markierte das unspektakuläre Ende meiner Magersucht.

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Natürlich gelang mir die Bewältigung meiner Krankheit nicht von einem Tag auf den anderen. Schritt für Schritt musste ich lernen, wieder regelmäßig zu essen: Ich machte es mir zur Priorität, viele meiner Mahlzeiten in Gesellschaft von Freunden einzunehmen und entdeckte etwa die Kochshows und -Bücher der britischen Köchin Nigella Lawson für mich. Was im ersten Moment furchtbar banal klingen mag, zeigte mir, dass es tatsächlich Menschen gab, die Essen zelebrierten und es nicht als Feind der perfekten Strandfigur ansahen.

Viel mehr als meine sich langsam entwickelnde Ernährungsumstellung blieb die eigentliche Challenge an meinem Weg aus der Magersucht psychologischer Natur: Ich musste lernen, dass nicht jeder, der mir ein Stück Torte anbot, mein Erzfeind war und meine Figur sabotieren wollte. Und dass Aussagen à la „Michi, du hast ja zugenommen!" als Kompliment gemeint, und kein Grund zur Beendigung der Freundschaft waren.

Da ich vermutete, dass Magersucht als Smalltalk-Thema nicht wirklich salonfähig war, und Aussagen wie „Hey Leute, ich habe endlich wieder regulären Stuhlgang!" wohl kaum die Massen begeistern würden, das Totschweigen meiner Probleme aber dennoch satt hatte, erzählte ich schließlich meinen engsten Freunden von meiner Situation. Obwohl es mir im ersten Moment wie ein Zeichen von Schwäche erschien, die Essstörung zuzugeben, entpuppte sich meine Entscheidung schon bald als enorme Hilfe.

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Zum ersten Mal seit langem versuchte ich nicht, meine Mitmenschen zwanghaft davon zu überzeugen, dass es mir SUPERGUT ging, sondern sprach einfach ehrlich über mich, meine Probleme und den Genesungsweg, der vor mir lag. Obwohl ich zugeben muss, dass die Geheimnistuerei immer mein absolutes Highlight an dem Anorexie-Debakel war, fühlten sich ehrliche Gespräche um einiges besser an als jede noch so raffinierte und ausgeschmückte Lüge über üppige Mahlzeiten, die ich nie zu mir genommen hatte.

Fünf Jahre später denke ich nur äußerst selten an diesen Abschnitt meines Lebens zurück und erzähle neueren Freunden, wie zum Beispiel Sarah, gar nicht erst davon. Es geht mir besser: Nicht umsonst bin ich der spontanen Seeeinladung meiner Freundin gefolgt und lag nun, nur in meine Badehose gehüllt, inmitten von Fremden; eine Situation, auf die ich mich Jahre zuvor noch mit zwei aufeinanderfolgenden Fasttagen vorbereitet hätte. Es geht mir gut, ich bin gesund und ich fühle mich mehr beach-ready als je zuvor.

Aber bitte, egal was ihr tut: Schreit nicht wie am Spieß, wenn ihr in Berührung mit meinem Bein kommt. Danke!