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Buch

Warum wir noch immer so von Jungfräulichkeit besessen sind

Der Sammelband „Virgin Envy“ beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen und kulturellen Fallstricken, die den Verlust der Jungfräulichkeit umgeben. Wir haben mit Co-Autorin Cristina Santos gesprochen.
Photo by Kirsty Begg via Stocksy

Wir erinnern uns alle an das erste Mal. Der Tag, an dem wir unsere Jungfräulichkeit an der Garderobe des Lebens abgegeben und die ehrwürdigen Hallen des Erwachsenseins betreten haben, wo wir uns mit erwachsenen Dingen beschäftigen—wie Steuererklärungen und Geschlechtskrankheiten.

Nur, dass es in Wirklichkeit natürlich nicht so einfach ist. Der Weg zum Verlust der Jungfräulichkeit ist von allgemeiner Unsicherheit, fehlender Reife und einer kulturell aufgeladenen Erwartungshaltung gepflastert—und sei es nur die Frage, ob bei der Entjungferung denn nun tatsächlich ein „Jungfernhäutchen" (oder Hymen) reißt oder eben nicht.

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Dieser Teil der weiblichen Anatomie ist auch Thema des Buchs Virgin Envy: The Cultural Insignificance of the Hymen. Die Essay-Sammlung wirft einen Blick in die komplizierte Welt der Jungfräulichkeit, indem sie Themen wie Twilight, True Blood, Aktivismus auf dem Tahrir-Platz und Bollywood beleuchtet. Dabei wollen die Beiträge wichtige Fragen beantworten, wie zum Beispiel warum weibliche und männliche Jungfrauen so extrem unterschiedlich behandelt werden, warum das Hymen überhaupt existiert und warum Männer konstant versuchen, die weibliche Jungfräulichkeit zu kontrollieren.

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Wir haben mit der Mitherausgeberin Cristina Santos über Vampir-Hymen, Edward und Bella und queere Jungfrauen gesprochen.

Broadly: Was hat dich dazu gebracht, dich mit dem Thema Jungfräulichkeit zu befassen?
Cristina Santos: Ich habe immer mit Themen um die weibliche Identität gearbeitet und die soziokulturellen Faktoren, die einen Einfluss darauf haben, wie Frauen ihr Selbstbild formen, wie sie sich selbst sehen. Nicht nur als Teil der Gemeinschaft, in der sie leben, sondern auch wie sie sich selbst als Lebewesen wahrnehmen, und was passiert, wenn dieses Selbstbild mit der soziokulturellen Norm in Konflikt steht. Das Jahr [als die Arbeit an dem Buch begann] war das erste Jahr des Master-Programms in Vergleichender Literaturwissenschaft und ich schlug einen Kurs vor, der sich mit dem Archetyp der monströsen Frau beschäftigt, und wie dieser auf der vorherrschenden Furcht vor weiblicher Sexualität beruht. Alle fragen immer: „Warum Jungfrauen? Jungfrauen sind nicht monströs." Aber das sind sie eben schon.

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Warum ist Jungfräulichkeit deiner Meinung nach weiterhin ein so gesellschaftlich vorbelastetes Thema?
Zählt Masturbation als etwas, das die Jungfräulichkeit beeinflusst oder nicht? Bist du noch Jungfrau oder bist du keine Jungfrau? Woher kommt diese Obsession, die Jungfräulichkeit genau einzugrenzen? Das sind alles Fragen, auf die ich gestoßen bin, als auf sozialen Netzwerken zu Darstellungen oder Ansichten zur weiblichen Jungfräulichkeit recherchiert habe. Dabei bemerkte ich einen interessanten Trend, wenn man so will: Mädchen versteigern ihre Jungfräulichkeit, weil sie den Marktwert erkennen, und den Fetisch, den Männer für ihren Status als Jungfrauen haben. Zum Beispiel gab es in den USA eine junge Frau, die so ihr Master-Studium finanzieren wollte. Ihre Schwester hatte vor ihr schon ihr Studium bezahlt, indem sie in einem legalen Bordell arbeitete, und sie dachte sich dann: „Ich kann genauso gut meine Jungfräulichkeit versteigern." Hier hat jemand den ökonomischen Wert ihrer Jungfräulichkeit erkannt.

Titelfoto: Kristina Paukshtite | Pexels | CC0

Denkst du, hier liegt auch die unterschiedliche Wahrnehmung weiblicher und männlicher Jungfräulichkeit begründet, oder gibt es auch Parallelen zwischen den Erfahrungen, die Jungfrauen beider Geschlechter machen?
Ich will nicht zu universell sprechen, aber in den meisten Fällen im nordamerikanischen Kontext gibt es noch immer die Einstellung, dass weibliche Jungfräulichkeit als Reinheit wertgeschätzt wird, während eine männliche Jungfrau als „noch kein Mann" gesehen wird. Hier geht es auch um die Frage der Potenz und beim Mann ist es eine positive Sache, wenn er seine Jungfräulichkeit verliert, also muss sich das nicht innerhalb der Ehe abspielen.

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Das bringt uns zu Twilight, was mich und [Mitherausgeber Jonathan A. Allan] auf diese Diskussion der weiblichen und männlichen Jungfräulichkeit gebracht hat. Jonathan arbeitet in Maskulinitätsstudien und er fing an, über Edward zu schreiben. Als ich mir Bella als Charakter vorgenommen habe, empfand ich sie als sehr frustrierend. Wir brachten unsere Arbeit zusammen und diskutierten: Hier hatten wir zwei parallele Jungfräulichkeiten im geschlechtsnormativen Binärsystem, weiblich und männlich. Edward ist Jungfrau und wie wir wissen, ist Bella es auch. Bei beiden geht es sehr viel um das Konzept der Reinheit und Abstinenz. Er ist als Vampir seit ca. hundert Jahren abstinent, Bella hat andererseits aber einen sexuellen Trieb, der ständig von Edward auf sehr bevormundende Art zurückgestutzt wird.

Obwohl sie hier ja nicht der starke Vampir ist.
Ja, genau. Wo ist Bellas Selbstbestimmung? Ihr romantischer Partner unterdrückt ständig ihr sexuelles Erwachen, weil er es als bedrohlich empfindet und es nur innerhalb des Ehebunds gutheißen kann.

Wie sieht es mit True Blood aus? Ich finde, da gibt es eine sehr interessante Darstellung der Jungfräulichkeit bei Vampiren. Ich war sehr überrascht, als es diese Wendung gab, dass Jessica (Deborah Ann Woll) jede Nacht als Jungfrau aufwacht, aber innerhalb der Logik, dass bei Vampiren alle Wunden heilen, ergibt es wohl Sinn.
Ich fand sehr interessant, dass die Serie zwar dafür bekannt ist, sehr freizügig und extrem zu sein, aber in diesen Szenen fällt niemals das Wort Hymen: „Es ist zugewachsen! Ich kann nicht fassen, dass es zugewachsen ist!" Dass sie eine ewige Jungfrau ist, das ist dieser Fetisch der weiblichen Jungfräulichkeit. Aber nicht aus weiblicher Sicht. Es ist, als würde man bestraft dafür, dass man außerhalb der Ehe Sex hat. Das wird in der Folge noch weiter betont, als sie ihren Freund Hoyt verlässt und er sagt, die Tatsache, dass sie immer eine Jungfrau bleibt, mache sie zu einem Monster.

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Diesen Gedanken sprecht ihr auch in der Einleitung des Buchs an. In vielen Kapiteln geht es um Vorstellungen, was zu viel oder zu wenig Jungfräulichkeit ist, und an welchem Punkt die Wahrnehmung kippt.
Es herrscht diese Überzeugung, dass weibliche Jungfräulichkeit innerhalb bestimmter Parameter klar definiert sein muss. Aber Frauen, die jungfräulicher bleiben als die Norm es verlangt, werden als abnormal und abartig gesehen. Die einzige Ausnahme bilden Frauen, bei denen die Jungfräulichkeit mit einer positiven Definition eingeschränkt wurde, wie Nonnen.

Wie können wir eine Wahrnehmung fördern, in der Jungfräulichkeit sich nicht nur um das Hymen dreht? Wird der Jungfrauenstatus in den kommenden Jahrzehnten an Bedeutung verlieren?
Ich denke, in diesem Bereich muss noch sehr viel gemacht werden. Das ist nicht mein Fachgebiet, aber ich denke, es ist auch für die queere Community sehr wichtig, dass diese Fragen untersucht werden. Es gibt noch immer ein Tabu, was Jungfräulichkeit angeht, aber wenn wir Identitäten besprechen—weiblich, männlich, trans, queer, lesbisch—, dann können wir die Sexualität nicht außen vor lassen. Das ist eine maßgebliche Komponente, wenn es darum geht, eine Definition von Identität zu finden. In diesem Bereich passiert zur Zeit sehr viel und wir müssen darüber sprechen.


Foto: imago | EntertainmentPictures