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Kultur

Theater gegen Rape Culture: "Stören" zeigt, was Frauen täglich ertragen müssen

Suna Gürler thematisiert in ihrem Stück die verstörenden Realitäten des Frauseins. Wir haben mit ihr und Darsteller_in Chantal Süss über sexuelle Belästigung und echte Wut gesprochen.
Foto: Esra Rotthoff

Ohne mindestens 50 Prozent Akku gehst du nachts nicht vor die Tür. Der Schlüssel auf dem Nachhauseweg liegt in der Hand, bereit als Waffe zur Selbstverteidigung eingesetzt zu werden. Die kurze Hose hast du im letzten Moment doch gegen eine lange ausgetauscht, weil du diese falsche Vorstellung im Kopf hast, dass dich ein bisschen mehr Stoff irgendwie schützen würde.

Warum ist es für Frauen immer noch normal, solche Schutzmechanismen in ihren Alltag einzubauen? Hat man, wenn man einen weiblichen Körper hat, einen stillen Vertrag mit der Gesellschaft unterschrieben, dass das Leben dann halt so ist? Und warum vermitteln wir immer noch jungen Mädchen, dass sie vorsichtiger sein müssen? Müsste sich nicht eigentlich die Gesellschaft ändern – und nicht sie?

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Fragen wie diesen hat sich die Regisseurin Suna Gürler in ihrer Inszenierung Stören gestellt, die aktuell am Maxim Gorki Theater in Berlin zu sehen ist. Unter anderem basiert das Stück auf echten Erfahrungen der sechs jungen Laienschauspieler*innen, die Gürler für das Projekt zusammengetrommelt hat. Wir haben mit Regisseurin Suna Gürler und Schauspieler_in Chantal Süss (Süss identifiziert sich als nicht-binär) darüber gesprochen, ob unsere Gesellschaft wütender sein sollte, wie viel Persönliches in Stören steckt und welchen Einfluss Theater auf unsere Gesellschaft haben kann.

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Broadly: Wann bist du auf die Idee zu Stören gekommen, Suna?
Suna Gürler: Die Basis für die Entstehung dieser Idee war bei mir wohl spätestens im Alter von sechs oder sieben Jahren geschaffen. Da betonte ich in einem Steckbrief über mich, dass ich mich gerne draußen bewege, auf Bäume klettere und im Dreck spiele, obwohl ich ein Mädchen bin. Etwas konkreter wurde es dann 2013/14 während der Arbeit mit dem Gorki-Jugendclub. Die Gruppe bestand zufällig ausschließlich aus jungen Frauen und das Thema der Stückentwicklung war der eigene Körper. Kritische Masse hieß das Endprodukt und bis zur Premiere befürchtete ein Großteil des Teams, dass der Abend zu "feministisch" sein könnte. Deswegen baute ich überspitzt das Wort "Sorry" in so gut wie jede Szene ein.

Es folgte eine überwältigend positive Resonanz, die verdeutlichte, wie absurd dieser verinnerlichte "Sorry, dass ich da bin"- Mindset ist. Das brachte die Theaterleitung und mich auf die Idee, einen themenverwandten Abend unter professionellen Rahmenbedingungen für die Gorkibühne zu erarbeiten.

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Die Wut, die wir zeigen, ist echt.

Alle deine Schauspielerinnen sind Laien, die du aus Kursen kanntest. War es dir wichtig, dass der Cast divers ist?
Suna Gürler: Es gab kein offenes Casting. Ich habe gezielt Leute angesprochen, die ich schon kannte und von denen ich wusste, dass sie die Skills, die Zeit und das Interesse für diese Produktion mitbringen. Dabei war es mir wichtig, möglichst unterschiedliche Blickwinkel und Lebenserfahrungen der Spezies "junge Frau" an einem Tisch zu haben.

Chantal Süss: Suna hat mir die Ausschreibung zum Projekt geschickt und ich mich gefragt, ob ich mitmachen will. Das war letztes Jahr im März, da wurde "die Kölner Silvesternacht" in den Medien ja rauf und runter diskutiert und plötzlich ging es darum "unsere deutschen Frauen" zu beschützen. Darauf nahm die Ausschreibung dann auch Bezug: Wer sind diese „deutsche Frauen" denn? Wer besitzt "die" eigentlich? Und wollen "die" das überhaupt?

Chantal Süss (Mitte) mit ihren Schauspielkolleginnen. Foto: Ute Langkafel

Wie viel persönliche Erfahrungen stecken in dem Stück?
Chantal Süss: Das Stück ist schon sehr persönlich. Die Wut, die wir zeigen ist echt. Das heißt aber nicht, dass man eins zu eins unsere Erfahrungen auf der Bühne sehen kann. Wir haben in der Probenzeit viel geredet, viele Erfahrungen ausgetauscht, aber auch viel gelesen und Videos angesehen.

Insbesondere sexuelle Belästigung ist zugleich ja auch eine sehr traumatische Erfahrung.Wie schwer war es, sich mit diesem Thema so lange so intensiv auseinanderzusetzen?
Chantal Süss: Es geht ja zum Glück nicht nur um sexuelle Belästigung. Ein Teil der "rape culture" ist auch, dass Angst erzeugt wird: Männer böse Täter, Frauen arme Opfer. Das ist ja auch ein fragwürdiges Menschenbild. Also haben wir auch nach Auswegen aus der Angst gesucht. Das Thema hat schon an den Nerven gezerrt, das hat uns als Gruppe aber sehr zusammengeschweißt.

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Wir brauchen mehr Menschen, die kapieren, dass sie Teil des Problems sind. Dass Chauvisprüche halt doch nicht so witzig und harmlos sind.

Suna Gürler: Ich würde drei Arbeitsphasen beschreiben: Erstens: Das Realisieren. Was erlebe ich da tagtäglich eigentlich? Warum habe ich das bisher stillschweigend über mich ergehen lassen? Krass, die anderen erleben das gleiche. Aha, nicht ich bin das Problem. Zweitens: Das Spüren. Verdrängte Wut und Ohnmacht kommen hoch. Pessimismus und Optimismus, gelähmt sein und Tatendrang. Drittens: Einfach proben. Das darf man nicht vergessen. Trotz wuchtigem Thema, haben wir schlussendlich – wie alle anderen Theaterschaffenden – einfach eine Inszenierung erarbeitet.

Die Situationen, die in Stören angesprochen werden, haben sich wie natürlich in den Alltag von Frauen integriert. Brauchen wir – wie im Stück –mehr Wut, um die Leute aufzurütteln?
Chantal Süss: Wir brauchen mehr Leute, die wissen, dass diese Wut berechtigt ist. Dass Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, wissen, dass nicht sie selbst das Problem sind, sondern sich tatsächlich andere Menschen ihnen gegenüber übergriffig verhalten und deren Verhalten absolut nicht korrekt ist. Dass man deswegen keine "Zicke" ist, oder überempfindlich oder der traurige Einzelfall. Viele haben das Ganze ja schon so verinnerlicht, dass sie nicht mehr merken, dass wir als Gesellschaft ein Problem haben. Und hier natürlich auch der Umkehrschluss: Wir brauchen auch mehr Menschen, die kapieren, dass sie Teil des Problems sind. Dass Chauvisprüche halt doch nicht so witzig und harmlos sind, wie gerne behauptet wird.

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Suna Gürler: Oder auch einfach still daneben sitzen. Nicht okay.

Was unterscheidet deine Perspektive als nicht-binäre Person von der der anderen Darstellerinnen? Was überschneidet sich?
Chantal Süss: Ich glaube, das erste Missverständnis ist, dass es eine homogene Gruppen gibt. Der Unterschied ist, dass ich mich in dieser Geschlechter-Binarität vollkommen unwohl fühle, während die anderen Darstellerinnen mit der Zuschreibung Frau erst Mal kein Problem haben. Aber auch sie haben mit der Rolle "Frau" zu kämpfen.

An Stören angebunden ist ein Vermittlungsprogramm für Schulen. Welche Erfahrungen habt ihr in den Workshops mit Jugendlichen bislang gemacht? Wie wichtig ist dieser Austausch?
Suna Gürler: Dieser Austausch ist extrem wichtig. Der war die Hauptmotivation, dieses Stück überhaupt zu machen. Die theaterpädagogische Vermittlungsarbeit wird natürlich von den Profis übernommen, also von unseren Kolleginnen von Gorki X. Wann immer möglich wird aber der Kontakt zu den Spieler*innen, dem Dramaturgen oder zu mir hergestellt. Wir haben während der Produktionszeit eng mit Gorki X zusammengearbeitet und uns zusammen weitergebildet. Es gab außerdem zwei Partnerklassen, die uns auf der Probe besucht und eigene Stückentwicklungen zum Thema erarbeitet haben: "Stören Hoch Zwei".

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Chantal Süss: Nach den Vorstellungen hatten wir auch schon einige Schulklassen zum Nachgespräch da. Häufig berichten dann die Schüler*innen von ihren eigenen Erfahrungen und stellen auch kritische Fragen. Ich finde es immer spannend zu erfahren, wie die Jugendlichen das sehen und dann auch mit ihnen zu diskutieren.

Kann Theater die Gesellschaft verändern?
Suna Gürler: Ja, grundsätzlich kann es das. Jedes öffentliche Handeln oder Sprechen hat Einfluss auf die Gesellschaft. Zum Positiven oder Negativen. Im Großen oder im Kleinen. Bei Stören erlebe ich zum Beispiel, dass im Nachgespräch der (sonst eher bescheidene) Redeanteil von Frauen oder nicht-binären Leuten deutlich höher ist. Interessant, oder?

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Titelfoto: Esra Rotthoff