Solidarität und Überleben: Zu Besuch bei feministischen Antifa-Kampfsportlerinnen
Paula Lamont und Ella Gilbert haben Solstar 2016 gegründet | Fotos von Jake Lewis

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Sport

Solidarität und Überleben: Zu Besuch bei feministischen Antifa-Kampfsportlerinnen

Solstar beschreibt sich als "rotes Gym", das auf linken Prinzipien aufbaut. Die Gründerinnen Ella Gilbert and Paula Lamont erklären, warum Boxen politischer Widerstand ist.

Sie tragen zwar Boxhandschuhe und Pratzen, doch die Wucht der Schläge lässt einen zusammenzucken. Ella Gilbert und Paula Lamont sparren in einem Park in Nordlondon und wärmen sich dort für das richtige Training auf. Ein paar Meter entfernt stehen vier Männer, die Sprüche klopfen, doch die Kämpferinnen lassen sich nicht ablenken. Gilbert erwischt mit einem rechten Haken Lamonts Nase. Verblüfft wirft Lamont ihren Pferdeschwanz zurück über die Schulter, dann lachen beide.

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Gilbert und Lamont sind die Gründerinnen von Solstar, einem Studio für Boxen und Martial Arts. Nicht nur ist der Betrieb in Frauenhand, auch alle Trainerinnen sind weiblich. Das ist allerdings nicht das einzige Statement, das Solstar setzen soll: Die Gründerinnen bezeichnen die seit 2016 bestehende Kampfsportschule als antifaschistisch und leiten sie nach entsprechenden Prinzipien. Lamont ist Boxerin, Jiu-Jitsu-Kämpferin und hat an professionellen MMA-Wettkämpfen teilgenommen. Sie war in ihrem früheren Gym die erste Frau seit 15 Jahren, die einen schwarzen Gürtel in Taekwondo bekam. Gilbert startete ihre Boxkarriere 2012 während ihres Studiums. Heute kämpft sie für den Islington Boxing Club, vergangenes Jahr gewann sie bei den prestigeträchtigen London Development Championships.

Gilbert erinnert sich an ihre erste Erfahrung in einem Amateur-Boxclub: "Ich war seit 100 Jahren die erste Frau dort, und seither hatten sie auch keine weitere. Ich stach hervor, ich war stur und ich weigerte mich aufzuhören. Irgendwann mussten sie mir Aufmerksamkeit schenken." Frauen sind in der Kampfsportszene in der Minderheit, das sei nun mal die Kultur des Sports, sagt sie. Ihr aktueller Club habe die wahrscheinlich größte weibliche Mitgliedschaft Großbritanniens, trotzdem kämen auf jede Frau noch sechs bis sieben Männer.


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Solstar ist ein relativ kleiner Club, das Geschlechterverhältnis der Mitglieder ist ausgeglichen. Zweimal wöchentlich finden in einem örtlichen Gemeindezentrum Kurse statt – dienstags Boxen und donnerstags Muay Thai. Die Boxstunden übernimmt Gilbert, den anderen Kurs leitet die frühere World-Muaythai-Council-Meisterin Anna Zucchelli. Manchmal kommen bis zu 30 Schülerinnen und Schüler, im Schnitt sind es aber 10 bis 15.

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Solstar hebt sich durch seine feministischen und antifaschistischen Prinzipien von anderen Gyms ab. "Wir beschreiben uns als 'rotes' oder linkes Gym", erklärt Lamont. "Hier können Gewerkschaftsmitglieder, Aktivistinnen und Aktivisten und politisch Progressive trainieren."

Dabei gehe es viel um Solidarität, ergänzt Gilbert. "Man spürt einen gewissen Team Spirit, wenn man reinkommt und weiß: Hier trainiere ich mit Leuten, die meine Prinzipien teilen."

Es gibt andere linke Gyms in Großbritannien, doch diese Räume fanden die Solstar-Gründerinnen nicht inklusiv. Nirgends hatte eine Frau die Leitung. "Wie soll man denn für eine Bevölkerungsgruppe etwas erreichen, wenn man diese Menschen nirgends repräsentiert?", fragt Gilbert.

Paula Lamont

Lamont nickt. Sie findet, alle progressiven Bewegungen sollten von Frauen angeführt werden, oder zumindest solle es ein ausgeglichenes Verhältnis geben. "Ich weiß nicht, wie die Linke sich progressiv nennen kann, wenn Frauen nirgends an der Spitze stehen."

Solstar ist mit linken Gyms in Großbritannien und weltweit vernetzt, vor Kurzem sind die Gründerinnen von einer antifaschistischen Trainingswoche im belgischen Gent zurückgekehrt. Boxen und Kampfsport seien traditionell antifaschistisch, erklärt Lamont. "Die Leute trainieren, um sich im Ernstfall auf der Straße verteidigen zu können."

Selbstverteidigung steht bei allen Solstar-Kursen mit auf dem Plan, vor allem als Dienstleistung für Frauen. "Wir zeigen Menschen, wie sie überleben", sagt Gilbert. Lamont findet, das Beste an Martial Arts sei nicht die Fähigkeit, andere zu schlagen, sondern das Wissen darum, "wie man einen Schlag aushält, ohne daran zu zerbrechen".

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Gilbert und Lamont beim Sparring im Park

"Frauen haben mir schon so oft erzählt, wie sie bei sexualisierten oder anderen Übergriffen vor Angst erstarrten", sagt Lamont. "Wenn wir das unterbinden können, wenn wir Menschen aus diesem Zustand holen können, dann haben wir etwas erreicht."

Die Gründerinnen sind schon lange politisch aktiv: Lamont beteiligt sich seit den 1990ern an Protestbewegungen, ist Gewerkschaftsmitglied und sabotiert die britische Fuchsjagd, wo sie kann. Gilbert ist hauptberuflich Klimaforscherin, zurzeit promoviert sie über das Schelfeis der Antarktis. 2013 entging sie knapp der Verhaftung, als sie gegen die (inzwischen genehmigte) dritte Landebahn des Flughafens Heathrow protestierte.

Doch Solstar soll keine Form des Protests sein. "Es ist eher eine Form des Widerstands", sagt Lamont. "Protest bedeutet, dass man auf etwas Bestimmtes reagiert, aber Widerstand heißt, dass man Kraft und Gemeinschaft aufbaut, auf die man sich verlassen kann. Es geht darum, Menschen zusammenzubringen und die Linke zu stärken, körperlich wie mental."

Ella Gilbert

Die türkische und kurdische Community hat sich mir Solstar solidarisch gezeigt. Das Gemeindezentrum, in dem die Kurse stattfinden, gehört der Gik-Der Refugee and Workers Cultural Association. Die Organisation wurde 1991 gegründet, von "Migrantinnen und Migranten, die vor politischer und ethnischer Verfolgung in der Türkei und in Kurdistan geflüchtet sind". Wie auch Gik-Der unterstützen Lamont und Gilbert die kurdische Revolution in Rojava.

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"Das ist ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit", sagt Lamont über die türkisch-kurdische Solidarität. "Wir arbeiten in einem Zentrum für Geflüchtete, sie haben uns den Raum gratis angeboten." Deshalb sei es ihnen wichtig gewesen, dass das Solstar-Programm ebenfalls links, antifaschistisch und feministisch ist.

Solstar-Mitglieder helfen bei Gemeindefesten und geben Kindern Englisch- und Mathenachhilfe. Der Club arbeitet außerdem daran, Martial-Arts-Kurse für geflüchtete Frauen anzubieten. "Wir sammeln Spenden für eine Tagesstätte mit einer Erzieherin, damit türkische und kurdische Frauen aus der Umgebung an Kursen teilnehmen können", sagt Lamont. "Wir müssen sehen, was die Hindernisse sind, die Frauen vom Training abhalten. Und dann räumen wir die Hindernisse aus dem Weg."

Die Zugänglichkeit des Gyms ist das Wichtigste, deshalb kosten die Kurse umgerechnet auch nur knapp sechs Euro. Wer sich das nicht leisten kann, darf mit Solstar verhandeln. "Wir haben schon früh entschieden, dass es keinen Sinn macht, einen auf Underground-Club zu machen. Stattdessen sind wir offen für alle", sagt Lamont.

"Es ist wichtig, dass wir sichtbar sind, weil wir an der Spitze einer progressiven Bewegung stehen", ergänzt Gilbert. "Wir sind das erste linke, von Frauen betriebene Gym, und das müssen wir auch bewerben. Auch wenn es nichts weiter beweist als: Auch das können Frauen."

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