Sex, das ultimative Tabu: Wie iranische Frauen um ihre Freiheit kämpfen
Bild: Little Dream Entertainment | Camino Films

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Interview

Sex, das ultimative Tabu: Wie iranische Frauen um ihre Freiheit kämpfen

Der Animationsfilm 'Teheran Tabu' sorgte bereits in Cannes für Diskussionsstoff. Regisseur Ali Soozandeh erklärt, warum die Unterdrückung von Sexualität so unfrei macht.

Eine Frau und ein Mann schlendern Hand in Hand durch einen Park. Plötzlich werden sie von Polizisten brutal auseinander gezogen, der Mann mitgenommen. Die Szene stammt aus dem Animationsfilm Teheran Tabu, der am 16. November in den deutschen Kinos anläuft. Ausgedacht hat sie sich Ali Soozandeh trotzdem nicht. Der Regisseur möchte zeigen, wie sehr Liebe, Sexualität und persönliche Freiheiten im modernen Iran eingeschränkt werden – und warum diese Einschränkungen vor allem Frauen treffen.

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Der Film erzählt die Geschichte von drei Frauen und einem jungen Mann, die versuchen, den Zwängen der iranischen Gesellschaft durch Tabubrüche zu entfliehen. Wir haben den 47-jährigen Filmemacher getroffen und mit ihm über Tabubrüche gesprochen: sowohl in seiner Heimat Iran, als auch seiner Wahlheimat Deutschland.

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Broadly: Teheran Tabu setzt sich mit sexuellen Tabus im Iran auseinander. Ist der Umgang mit Sexualität und Frauen ein Gradmesser dafür, wie offen eine Gesellschaft wirklich ist?
Ali Soozandeh: Der Umgang mit Sexualität und Frauen ist im Iran davon abhängig, welche Gesellschaftsschicht man betrachtet. In Großstädten oder reichen Gegenden ist der Druck der Gesellschaft viel geringer, man lebt freier. Frauen können dort zwar immer noch nicht ohne Kopftuch auf die Straße gehen, aber sie müssen nicht jungfräulich sein, bevor sie heiraten. Im Süden von Teheran hingegen findet man sehr arme Gegenden, wo auch traditioneller gelebt und gedacht wird. Die Problematik kommt natürlich aus verschiedenen Richtungen: zum einen aus der Gesetzgebung und Religion, zum anderen aus unseren Köpfen, unserer Bildung und Erziehung.

Sie haben die ersten 25 Jahre ihres Lebens im Iran gelebt, sind also in einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft großgeworden. Wie hat Sie das beeinflusst?
Wenn man in so einer Gesellschaft aufwächst, empfindet man alles erstmal als normal. Häufig macht man auch alles mit. In meiner Kindheit hatten wir noch kein Internet, keinen Zugang zur Außenwelt, zu anderen Kulturen oder zu anderen Gesellschaften. Deswegen war es auch schwierig für uns, unsere Gesellschaft mit Distanz zu betrachten. Man braucht im Iran mehrere Gesichter, um zu überleben: Ein Gesicht für die Familie, eins für die Freunde, ein anderes für die Arbeit und viele mehr. Das Gesicht, das man vor der Familie zeigt, ist eins, das Tabuthemen meidet. Ich war relativ jung, als ich da rausgekommen bin, aber wir haben in der Familie zum Beispiel nie über Sexualität gesprochen.

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Jetzt ist es natürlich anders. Die jungen Menschen haben Zugang zum Internet und den sozialen Medien und haben Einblick in die Lebensrealitäten anderer Länder. Ich glaube es gibt einen Grund dafür, dass so viele Männer das Land verlassen und ihr Glück woanders gesucht haben: Wenn man keine Perspektive hat, dann wirkt die Gesellschaft immer enger und enger. Wer sich dem Druck nicht beugen kann, muss das Land verlassen.

Ein Kopftuch zu tragen ist erst seit Ende der 70er Pflicht im Iran. Ihre Mutter und Großmutter sind also noch ohne die Tragepflicht aufgewachsen. War das jemals ein Thema in Ihrer Familie?
Nicht wirklich. Vielleicht gab es vor der verpflichtenden Einführung des Kopftuchs keinen Druck von Seiten des Gesetzgebers. Dafür ging der Druck von der Gesellschaft selbst aus. Es wurde schon vor den 70ern von Frauen erwartet, ein Kopftuch zu tragen. Es ist nicht so, dass Hijabs erst mit der Revolution gekommen sind. Meine Großmutter trug es zum Beispiel, weil sie sehr religiös war.

Sie leben seit 1995 in Deutschland. Welche Tabus nehmen Sie in der deutschen Gesellschaft wahr?
Auch in Deutschland gibt es Parallelgesellschaften, über die man nicht spricht. Bei der Recherche zu meinem Film bin ich zum Beispiel auf ein deutschsprachiges Forum gestoßen, wo sich viele Frauen aus Deutschland und Österreich über Hymen-Rekonstruktionen ausgetauscht haben. Das hat mich überrascht, weil das Thema eigentlich nicht öffentlich diskutiert wird.

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Was ein Tabu ist, wird aber auch davon beeinflusst, in welchem Teil der Gesellschaft man aufwächst und später lebt. Die Familie und der Arbeitsplatz spielen ebenfalls eine Rolle. Jedes Umfeld hat seine eigenen Tabus. Auch in Deutschland existieren immer noch gesellschaftliche Bereiche, in denen es tabuisiert ist, über weibliche Sexualität und Sexualität allgemein zu sprechen. Man spricht wahrscheinlich im privaten Bereich über Sex, aber in der Öffentlichkeit wird das Thema noch immer gemieden – nicht von allen, aber von vielen.

'Teheran Tabu'-Regisseur Ali Soozandeh | Foto mit freundlicher Genehmigung von Ali Soozandeh

Als Mann einen Film zu drehen, der sich mit dem Leben von Frauen, sexualisierter Gewalt, Prostitution und Menschenhandel auseinandersetzt, legt eine gewisse Perspektive fest, da Sie selbst immer ein Außenseiter dieses Erlebens waren. Inwieweit hat das den Film beeinflusst?
Ich war immer ein stiller Beobachter und habe in meiner Zeit im Iran viele Frauen mit solchen Geschichten kennengelernt. Deswegen musste ich nicht zwingend selbst eine Frau sein, um zu erkennen, welche Probleme sie in der Gesellschaft haben. Trotzdem war es eine bewusste Entscheidung, den Film mit einer Frau zusammen zu schreiben, Grit Kienzlen. Sie konnte Erfahrungen und Perspektiven einbringen, die ich als Mann eben nicht hatte. Durch sie konnte die Geschichte glaubwürdiger erzählt werden.

Aber natürlich leiden unter der sexuellen Einschränkung im Iran auch Männer. Was sich bei Frauen und Männern unterscheidet, ist der gesellschaftliche Druck. Frauen sind für die Ehre der Familie verantwortlich, Männer nicht. Das ist auch der Unterschied zwischen der teilweisen Tabuisierung von Sexualität in Deutschland und der im Iran: Frauen können im Iran der Ehre ihrer Familie schaden, wenn sie außerehelichen Sex haben oder heiraten, ohne Jungfrau zu sein. Leider geben viele Frauen ihren Kindern dieselben Werte weiter, die schon ihr eigenes Leben eingeschränkt haben und noch immer einschränken. So werden Tabus von Generation zu Generation weitergegeben.

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Wie haben Leute im Iran auf den Film reagiert?
Die iranische Presse hat den Film nicht inhaltlich analysiert, sondern als anti-iranisch abgestempelt. Dafür haben sich bei den Filmpremieren in anderen Ländern interessante Dialoge ergeben. In Nordamerika hat sich nach der Vorführung ein Mann gemeldet, der erzählte, dass seine Mutter ihr ganzes Leben im Iran verbracht habe und keins der thematisierten Probleme gehabt hätte. Der Mann neben ihm stand daraufhin auf und sagte, dass er viel mehr Probleme im Iran wahrgenommen und erlebt habe, als im Film gezeigt werden. Diese beiden Männer kennen sich nicht, kommen in einem Kinosaal zusammen und beginnen einen Dialog. Das ist das Beste, was passieren kann.

Die Clubszene in Teheran ist das genaue Gegenteil von dem, wie sich viele Menschen den Iran vorstellen. Dort wird Sexualität frei gelebt und auch Homosexualität ist kein Tabu. Lauert im Nachtleben die wahre Revolution?
Ich würde nicht sagen, dass es eine Revolution ist – eher ein Ausweg aus dem Alltag. Im Nachtleben können einige Menschen zumindest einen Teil ihrer Bedürfnisse ausleben. Die Clubszene ist frei von Gesetzen und frei von Kontrolle. Man nimmt Drogen und lebt seine Sexualität frei aus. Die Leute versuchen all das, was sie verpasst haben, nachzuholen und haben trotzdem immer das Gefühl, dass es morgen nicht mehr möglich sein wird. Die Angst, von der Sittenpolizei verhaftet zu werden und im Gefängnis zu landen, ist immer da.

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