Videospiele haben nach wie vor ein Problem mit Mutterfiguren
Screenshot: "GTA V" | Rockstar Games

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Videospiele haben nach wie vor ein Problem mit Mutterfiguren

"Red Dead Redemption", "Heavy Rain", "The Last of Us": Mehrdimensionale Vaterfiguren gibt es zuhauf. Wo bleiben die spielbaren Mütter?

Ich befinde mich in einem dunklen Schacht und krieche durch Scherben. Mit jeder schwerfälligen Bewegung nach vorne, blute ich stärker. Wenn ich noch einmal falsch abbiege, werde ich endgültig kollabieren – aber wer rettet dann meinen Sohn?

Heavy Rain erschien 2010 und ließ einen (unter anderem) in die Haut des verzweifelten Ethan Mars schlüpfen, dessen Kind entführt wurde. Auch wenn die Handlung in "Was würdest du tun, um deine Liebsten zu retten?"- Saw-Manier zunehmend kruder und düsterer wurde, gab einem das Spiel eine bemerkenswerte Möglichkeit: eine realistische Vaterfigur zu spielen. Sei es nun beim Herumtoben mit den Kindern im Garten oder beim deprimierenden Abendessen am Küchentisch, nachdem die einst so glückliche Ehe ein tragisches Ende gefunden hat.

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Vaterfiguren (egal ob tatsächlicher Vater oder väterlicher Freund) feiern in Videospielen Hochkonjunktur. Sie verkörpern Durchhaltevermögen, körperliche und mentale Stärke und besitzen durch die Liebe zu ihrer Familie gerade genug "Schwäche", um menschlich zu wirken und den Spieler zu emotionalisieren. Sie können handlungsunterstützende Nebenfiguren wie Sully aus der Uncharted-Reihe oder moralisch fragwürdige Protagonisten wie Booker DeWitt aus Bioshock Infinite sein, ohne sich dem Vorwurf stellen zu müssen, die immer gleichen Stereotype zu reproduzieren.

Ich habe mit Joel aus The Last of Us geweint, als seine Tochter in seinen Armen gestorben ist, und gerührt dabei zugesehen, wie John Marston in Read Dead Redemption seinem Sohn das Jagen beigebracht hat. Eine Frage habe ich mir dabei aber trotzdem immer wieder gestellt: Wo sind die ganzen Mütter und warum dürfen wir sie nicht spielen?

Die Vertreterin einer matriarchalisch organisierten Alienrasse hat zwar eine durchaus komplexe (und tragische) Familiengeschichte, trägt gleichzeitig aber Ausschnitt bis zum Bauchnabel.

Fast scheint es, als fühlten sich Entwickler von ihrer Vorstellung einer Mutter in ihrem Narrativ eingeschränkt. Ein Vater kann in die große weite Welt ziehe und heroisch das Böse bekämpfen. Frauen hingegen, in ihrer stereotypen Rolle als gebärende, fürsorgende Menschen scheinen diese Freiheit nicht haben zu dürfen. "Mütter sind diejenigen, die man zurücklässt", fasste es Carly Smith 2014 in einem Artikel für die Gaming-Website Polygon zusammen. Das ist aus spieltechnischer Sicht nicht nur langweilig, sondern auch ziemlich traurig.

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Laut Nina Kiel, Journalistin und Game Designerin aus Düsseldorf, gibt es drei grundlegende Mutterbilder, die – in Variationen – immer wieder auftauchen. Version Eins: "Der Engel im Haushalt, der stets freundlich und liebevoll auf die Rückkehr des Kindes wartet und Heimatverbundenheit repräsentiert." Eines der bekanntesten Beispiele dafür dürfte die Mutter aus Pokémon sein, die ihrem Sohn noch gutgemeinte Ratschläge auf den Weg geben darf, bevor er sich dazu aufmacht, der größte Trainer aller Zeiten zu werden. "Mom" verlässt im Laufe des ersten Spiels nicht ein einziges Mal das heimische Wohnzimmer und scheint so irrelevant und austauschbar zu sein, dass sie nicht einmal einen Namen bekommt.

Mutterbild Nummer zwei umfasst eine junge, attraktive Frau, die deswegen aktiver in Erscheinung treten darf und – vergleichbar zu ähnlich angelegten Frauenfiguren in Actionfilmen – für sich und ihre Liebsten einsteht. In diese Kategorie könnte beispielsweise Samara aus dem Sci-Fi-Rollenspiel Mass Effect 2 fallen. Die Vertreterin einer matriarchalisch organisierten Alienrasse hat zwar eine durchaus komplexe (und tragische) Familiengeschichte, trägt gleichzeitig aber Ausschnitt bis zum Bauchnabel und ist so übersexualisiert dargestellt, als hätte sie ein dauergeiler Teenager während einer besonders langweiligen Stunde in sein Schulheft gekritzelt.

Der dritte und oberflächlich betrachtet interessanteste, aber ähnlich eindimensionale Stereotyp ist der der "Raben- oder Monstermutter". Kiel beschreibt sie als "mal übersexualisierte, mal hässlich-deformierte Figur, die sich vor allem durch ihre Skrupellosigkeit auszeichnet." Charaktere wie Mad Moxxi aus Borderlands 2 beispielsweise, oder die Mutter von GTA V-Enfant terrible Trevor Phillips. Insbesondere die Letztere ist ein gutes Beispiel für den Archetyp der Rabenmutter, die stellvertretend für die psychologischen Probleme und den schwierigen Background des Protagonisten steht.

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Eines haben der Großteil dieser Mutterfiguren gemeinsam: Wir können sie nicht spielen. Die letzte spielbare Mutter, an die ich mich erinnern kann, ist die Protagonistin von Fallout 4. Allerdings auch nur, weil der Spieler zu Beginn das Geschlecht seiner Figur selbst bestimmen kann. Ob man als Mann oder Frau das postapokalyptische Ödland durchstreift, macht für die Handlung keinen Unterschied. Die spezifischen Ängste, Wünsche, Probleme von Müttern werden dadurch nicht adressiert.

Für Dominik Schott, Redakteur bei GamePro, hat die Ausklammerung von Müttern auch damit zu tun, wie Frauen generell in vielen Spielen dargestellt werden. "Das Rollenbild der Mutter passt kaum zu den Stereotypen, mit denen virtuelle Frauen verbunden werden, allem voran die jugendliche Makellosigkeit und unberührte Schönheit." Deswegen seien sie oft Randfiguren, mehr Stichwortgeber als Elemente, die die Handlung – von der ursprünglichen Motivation eines Helden abgesehen – maßgeblich beeinflussen.

"Es scheint noch immer kaum Ansätze zu geben, eine mögliche Darstellung der Frau in der Rolle einer Mutter in Spielwelten zu entwickeln, während interessanterweise auf der anderen Seite das Bild des Vaters Quantensprünge hingelegt hat", sagt Schott. Beispiele für diese Entwicklung gibt es genug. "Ethan Mars ( Heavy Rain), Joel ( The Last of Us) oder auch Lee ( The Walking Dead) verkörpern Fürsorglichkeit aber auch Stärke als Werte einer Vater-Rolle, die offenbar viel problemloser auf die imaginäre Zielgruppe übertragen werden kann."

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Sobald mehr engagierte Mütter an Spielen arbeiten, wird sich hoffentlich auch die Zahl und Vielfalt ihrer digitalen Repräsentantinnen erhöhen.

Wer Mutterschaft als etwas betrachtet, das die Eigenschaften der gebärenden Person komplett auslöscht, für den sind Mutterfiguren keine spannenden, komplexen Charaktere. Liegt das Fehlen spielbarer Mütter also auch darin begründet, dass der vermeintliche Durchschnitts-Gamer (männlich und heterosexuell, auch wenn offizielle Zahlen diesem Klischee vehement widersprechen) kein Interesse daran hat, sich in eine Mutter hineinzuversetzen?

Ein ebenfalls nicht zu unterschätzender Faktor ist laut Nina Kiel, dass die Branche an sich männerdominiert ist.

"Die Quote von spielbaren Vätern ist schließlich deshalb in den letzten Jahren stetig gestiegen, weil immer mehr Entwickler selbst Väter werden und es sie verständlicherweise reizt, ihren nun breiteren Erfahrungshorizont in die Projekte einfließen zu lassen", erklärt sie. "Sobald mehr engagierte Mütter an Spielen arbeiten, wird sich hoffentlich auch die Zahl und Vielfalt ihrer digitalen Repräsentantinnen erhöhen."

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In diese Richtung tut sich tatsächlich etwas. In Deutschland gibt es immer mehr Angebote, die es sich ganz bewusst zur Aufgabe machen, mehr Frauen in die Gaming-Branche zu bringen. So fand im Rahmen der International Games Week in Berlin beispielsweise ein Coding-Workshop statt, bei dem sich junge Mädchen zwischen 10 und 17 an ihrem ersten eigenen Videospiel versuchen konnten. In den USA vermeldete die University of Southern California, dass 2015 erstmalig mehr Frauen als Männer im Bereich Game Design ihren Abschluss machten.

Es gibt also durchaus das Potential für Frauen, die Branche zu revolutionieren. Große Veränderungen innerhalb eines Industriezweigs, in dessen Chefetagen immer noch primär Männer sitzen, passieren aber selbstverständlich nicht über Nacht.

"Es bleibt nur abzuwarten und darauf zu hoffen, dass wir irgendwann weibliche Entsprechungen zu Vaterfiguren wie Joel aus The Last of Us oder Ethan aus Heavy Rain zu Gesicht bekommen werden", sagt Kiel abschließend. "Menschen, die lieben, leiden, kämpfen und dabei stets glaubwürdig erscheinen."


Screenshot: "GTA V" | Rockstar Games